Stilisierte grafische Darstellung, welche Sinnbeziehungen darstellen soll und an den Aufbau von Molekülen erinnert. In der Mitte ist eine Figur zu erkennen, die auf einem der Knotenpunkte balanciert.

Digitaler Wandel und Konstruktionsdidaktik im Fach Geschichte

Marcus Ventzke

Die Digitalisierung verändert räumliche und zeitliche Beziehungen. Bei Lernprozessen und deren Medien verändert sie Darreichungsformen und Vermittlungswege, Zugriffe und Nutzungszeiten.1 Wie wirkt sich das auf die didaktischen Konzeptionen und die unterrichtlichen Planungen aus? Wo liegen die Herausforderungen mit Blick auf die Gestaltung von Lehr- und Lernmitteln, Lehrplänen und Unterrichtskonzepten? Wenn sich die Welt dreht, können Schulbuch und Unterricht sicher nicht unverändert bleiben.
Um die Veränderungsnotwendigkeiten angemessen fassen zu können, ist es zunächst nötig, medienwissenschaftliche Anregungen ebenso in Betracht zu ziehen wie praktische Erfahrungen bei der Entwicklung und Implementierung digital-multimedialer Unterrichtsmaterialien und -konzepte.
Konkret stellen sich damit diese Fragen:

  1. Welche Kriterien für die Beurteilung von Medien lassen sich aus medienanalytischer Sicht heranziehen?
  2. Welche Charakteristika des digitalen Wandels und der medialen Rezeptionskultur lassen sich im Vergleich analoger und digitaler Medien aufweisen?
  3. Inwiefern sind digitales und geschichtliches Konstruieren vergleichbar?

Da wir uns sicher erst am Anfang der digitalen Medienentwicklung befinden, sind diese Überlegungen notwendigerweise vorläufig.

Medienanalytische Ausgangslagen und Beurteilungskriterien

Bis zum Beginn der digitalen Revolution stand der Vorgang des Wissenserwerbs in einem Zusammenhang mit Auffindungswegen und sinnlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten, die physisch-materiell geprägt waren.2 Diese Wege und Möglichkeiten verweisen auf einen weit zurückreichenden kulturellen Traditionszusammenhang, der noch heute gültige Konventionen ausgebildet hat.
Gerade das Schulbuch konnte sich somit bis zum Beginn der digitalen Revolution auf ein „altes Herkommen“ berufen3, zu dem per se die Geschichte des Buches und die Art des Umgangs mit ihm gehörte. Bildung im Sinne eines angeeigneten Wissens und das dafür unabdingbare Sich-Befassen mit Papierbüchern kamen als eine Einheit daher, in die Lesebrauchtum, methodisches Wissen zur Handhabung solcher Bücher, Identifikation mit der Buchtradition und bildungsbürgerliche Bibliophilie nahezu unauflöslich verflochten waren.

Ein altes Buch mit Ledereinband ist zu sehen, das Buch kann mithilfe einer Eisenkette verschlossen werden, ein sogenanntes Kettenbuch.

Sogenanntes Kettenbuch aus dem 15. Jahrhundert: das Buch als Standard für Speicherung und Vermittlung von Wissen, der begehrt war und geschützt wurde

Bei allen Medien definieren indes die Inkunabeln ihre Standards, also die Art des kreativen Kerns, und zwar in Form von Buch-Kapiteln, Film-Szenen und Fernseh-Sendungen, die Umgangsregeln, also etwa den Aufbau der medialen Präsentation, Rezeptionsweisen und Kritikerkulturen sowie die gewerblichen Nutzungsmöglichkeiten durch Verlage, Filmunternehmen oder Fernsehsender.4
Diese Standards kann man zusammenfassend als die „Organisationsform“ des Mediums bezeichnen.5 Sie reicht weit über den Inhalt des Mediums hinaus, denn sie bezieht sich auch auf die Art seiner Erstellung, Verbreitung und Nutzung. Im Luhmannschen Sinne kann daher ein Medium als System betrachtet werden. Dies eröffnet analytisch den Weg zu einem deutlich umfassenderen Medienverständnis: Ein Medium ist eben nicht nur ein statisches Produkt, sondern Ergebnis mehrerer Prozesse, aus denen es stammt und in die es auch eingebettet bleibt.
Für die Untersuchung der Veränderungen von Medien und des digitalen Medienverständnisses in der Gegenwart ist dieser System-Ansatz von erheblicher Bedeutung, weil eine reine Inhalts- und Produktorientierung die Charakteristika medialer Veränderungen nicht hinreichend deutlich machen kann.
Doch worin liegen die Herausforderungen beim Verständnis des medialen Wandels der Gegenwart? Ein Blick auf die Medienentwicklung am Ende des analogen Zeitalters zeigt, dass mit der Etablierung der Filmtechnik am Beginn des letzten Jahrhunderts offenbar die Entfaltung der analogen Mediengenres abgeschlossen war. Zum einen war neben Text, (stehendem/bewegtem) Bild und Ton keine andere, mit menschlichen Sinneswerkzeugen erfahrbare Repräsentationsform von Wirklichkeit mehr vorstellbar. Zum anderen bewirkte die Etablierung dieser Genres eine über fast ein Jahrhundert bestehende Versäulung der Kommunikation mit und über Medien, bei der die Organisationsformen stets unangetastet blieben. Und weil sich innerhalb der Mediengenres die Organisationsformen seit längerer Zeit nicht mehr grundlegend änderten, definierte beispielsweise der Unterschied zwischen dem preiswerten Reclam-Band und der in Leder gebundenen Werkausgabe keinen grundsätzlichen medialen Wandel mehr: In beiden Buchfabrikaten muss man blättern, die stofflich festgelegte Ordnung der Kapitel als roten Faden einer Narration deuten, Hilfsmittel wie Glossare und Stichwortverzeichnisse an den bekannten Orten finden und bei der Auseinandersetzung mit Bildern die Papierqualität einschätzen können.
Was aber ist an digitalen Medien anders? Was berechtigt uns, von einer Medienrevolution zu sprechen? Um diese Fragen zu beantworten, muss auf vier Kriterien geachtet werden.

Digitaler Wandel und mediale Rezeptionskultur

Medienkonvergenz

Eine Hand hält ein Smartphone mit hellem Display vor einem schwarzen Hintergrund.

Alles. Immer. Überall.

Warum erscheinen uns digitale Medien so anders? Zunächst rückt bei der Beantwortung dieser Frage die Kombination aus Inhalten und Nutzungsgeräten auf neue Weise in den Vordergrund. Die Trennung von Nutzungsgerät und Inhalt scheint in der Gegenwart deshalb besonders auffällig, weil die zunehmende Medienkonvergenz nicht nur dazu führt, dass die Differenzierung der Geräte geringer wird, sondern damit auch deren zunehmend flexiblere Nutzbarkeit einhergeht.6 Das führt dazu, dass sich Bindungen eines Geräts an nur einen Inhalt und einen Nutzungszweck auflösen.7 Tablet-Computer und Laptops kann man eben infolge der rasanten Entwicklung höchst unterschiedlicher Applikationen (Apps) neben der Erledigung von Arbeitsaufträgen gleichermaßen dazu nutzen, sich zu unterhalten, zu informieren, zu bilden oder zu kommunizieren.

Verfügbarkeit

Eine Person steht vor einem Bücherregal und sucht ein Buch.

Manches. Manchmal.

Vergleicht man die Handhabung des papiergebundenen Buches mit digitalen Medien, so werden im Punkt der Verfügbarkeit die Unterschiede sehr schnell offenbar: Auf analogem Wege erwerben Nutzerinnen und Nutzer Wissen durch die Wahrnehmung gedruckter Zeichen, die auf zusammengehefteten Papierbögen aneinandergereiht werden. Dazu sitzen sie z.B. in Bibliothekslesesälen, weil es einen Ort braucht, um das mithilfe von Büchern gesicherte Wissen aufzubewahren, kategorial zu ordnen und zu erhalten. Folglich kann dieses Buchwissen auch nur unter bestimmten – in der digitalen Gegenwart als einschränkend empfundenen – Bedingungen zur Verfügung gestellt werden.
Digital zur Verfügung gestellte Informationen sind hingegen prinzipiell an jedem Ort und zu jeder Zeit verfügbar. Sie unterliegen in ihrer Verbreitung und Verfügbarmachung in deutlich geringerem Maße materiellen Begrenzungen, sind also nicht an Bücherregale, Bibliothekslesesäle, Buchhandelöffnungszeiten, Ausleihintervalle, Papierhaltbarkeiten und Exemplarmengen gebunden.
Digitale Medien schneiden mithin gerade im Punkt der Rezeptionsbedingungen die Traditionslinien zu gedruckten Büchern ab. Sie heben viele der genannten materiellen Begrenzungen auf, etablieren damit zugleich jedoch andere Bedingungen, die Auswirkungen etwa auf unsere Zeitvorstellungen im Umgang mit Medien haben, oder auch mit Blick auf veränderte Ordnungs- und Bewertungsaufwände.8

Reproduktivität

Eine Person hält einen Spielekonsolen-Controller. Sie wird frontal von einem Bildschirm beleuchtet und erscheint dadurch blau getüncht. Der Hintergrund ist tiefschwarz.

Historischer Denker oder Gamer? Oder beides?

Verglichen mit dem papiergebundenen Buch haben digitale Medien das Potenzial reproduktiv zweiter Ordnung zu sein. Was bedeutet das? Sie verwandeln zum einen analog vorhandene Informationen in digitale Präsentationen, bilden damit aber lediglich eine analoge Gegebenheit nach. Zum anderen sind sie jedoch auch in der Lage, ganz neuartige mediale Welten zu schaffen. Und die Hervorbringung neuartiger digitaler Welten beruht an sich auf spezifischen Konstruktionsprinzipien, die sich auf die Art und Weise der Darstellung fachlicher Inhalte auswirken. Wenn man also das Potenzial digitaler Medienerzeugung ausschöpfen möchte, so sollten Inhalte als digitale Inhalte also nicht einfach nur ihre analogen Vorgänger nachbilden. Digitale Medien können vielmehr eigenständige Gebilde sein, die in ihrer Eigenart nur auf der Grundlage digitaler Konstruktionstechnik entstehen. Das lässt sich sehr leicht am Beispiel digitaler Spielewelten erkennen: Digitale Strategiespiele haben mit realem Städtebau oder Kriegen der Vergangenheit oftmals auf den ersten Blick nur sehr wenig gemein und doch können wir diesen Spielen die Basierung auf Historischem nicht absprechen, gerade weil sie z.B. Instrumente der Betrachtung und Beeinflussung des Geschehens liefern, die man bislang nur aus den nichtmedialisierten Vorstellungs- und Analysewelten von Historikern kennt.9

Künstlichkeit

Ein Stapel Papier.

Papier als Repräsentant der dinglichen Welt.

Auf Papier gedruckte Bücher haben eine unauflösbare Beziehung zu allen nichtdigitalen Lebensprozessen und damit zum menschlichen Leben an sich: Alle existenzerhaltenden Lebensprozesse (Ernähren, Kleiden, Schutz) sind an stoffliche Dinge gebunden. Papierbücher bleiben dieser dinglichen Welt, aus der sie genommen sind, strukturähnlich, weil sie, wie alles sinnlich Erfahrbare, eine Ausdehnung haben und ihre Organik sie mit einem bestimmten Teil ihrer Umwelt verbindet: Buchseiten werden aus Bäumen gemacht. Entstehung und Verfall von Büchern beruht auf natürlichen Vorgängen der Stoffumwandlung. Bücher haben Gewicht und eine Haptik. Ihre Darstellungsgrenzen sind leicht erkennbar: Mehr als Folio geht eben nicht, weil es keinen Sinn ergeben würde. Wer könnte denn mehr als Folio überhaupt nur tragen?10
Elektronische Datenmengen sind hingegen Größen einer nichtorganischen Welt, die sich natürlicher Stofflichkeit entziehen. Sie sind nicht zu sehen. Man kann sie nicht prüfend in den Händen halten. Sie in analogen Buchformatgrößen zu messen und sie in diesen Maßen zu begrenzen, erscheint daher sinnlos und unnötig.
Für den Vorgang der Informationsweitergabe und insbesondere didaktisch begründete Vermittlungsprozesse bedeutet das, dass wir uns von den materiellen Begrenzungen des gedruckten Buches lösen können und müssen. Damit rückt die Frage nach dem Vermittlungsziel und dem besten Weg zu einer erfolgreichen Vermittlung ganz neu in den Fokus: Wir können unterschiedliche Mediengenres in einer Publikation einsetzen und über deren 'Mischungsverhältnis' bestimmen. Wir können flexible, interaktive Darstellungs- und Arbeitstechniken verwenden und damit erstmalig in Büchern ein Verhältnis von aktiver und passiver Nutzung gestalten. Wir können über Umfang, Art, Präsentationsort und Vernetzung von Inhalten und Anmerkungsapparaten neu bestimmen. Was zu wenig, angemessen oder zu viel ist, muss ebenso neu austariert werden. Und wir sind nicht zuletzt in der Lage, etwa durch die Nutzung virtueller Welten, medienbedingte Vermittlungsbarrieren ganz aufzuheben und einen Sachverhalt ohne textliche Beschreibungen oder grafische Erläuterungen erfahrbar zu machen.

Konstruktionsdidaktik im Fach Geschichte

Digitale Medienschöpfungen können mit Recht den Anspruch auf Originalität erheben. Doch inwiefern ergeben sich daraus auch Möglichkeiten oder Notwendigkeiten für eine neue Didaktik? Die Aufgabe von Didaktik besteht anerkanntermaßen darin, die „reale Welt“ in einen (unterrichtlichen) Vermittlungs- und Diskurszusammenhang zu heben. Im Fach Geschichte werden dabei die historischen Geschehnisse unseres Lebens auf medialem Wege thematisiert.
Digitale Technik ermöglicht nun an vielen Stellen erstmals die Umsetzung fachdidaktischer Prinzipien wie Multiperspektivität, Konstruktivität und Narrativität in lebensnaher Verständlichkeit. Unterschiedliche Perspektiven und Narrationen können simultan präsentiert werden, es lässt sich eine hohe Differenzierung des Materials auf wechselnden medialen Grundlagen vornehmen und erkenntnisfördernde Konstruktionen – etwa in Form von Animationen – können eingebunden werden.
Doch das macht noch nicht das Neue aus und unterscheidet z.B. eine digitale Kartenanimation noch nicht von einem Kartenfilm, der mit Trickfilmtechnik arbeitet.
Digitale Konstruktionstechniken erlauben jedoch mehr, nämlich die Erschaffung und Erkundung potenziell unendlicher Räume und unendlicher Zeiten. Somit können Faktoren des Geschehens anders zusammengeführt und Darstellungsperspektiven so ausgewählt werden, dass sie Ereignisse zeigen, wie sie in einer analogen Welt und damit im Erfahrungsraum des ,wirklichen Lebens‘ und seiner Bilder niemals gesehen werden können.11 Daraus resultieren neue (oder eben künstliche) Präsentationsweisen, die Begrenzungen analoger menschlicher Erfahrungsmöglichkeiten aufheben und das digitale Erlebnis gerade deshalb so interessant machen. Dies geschieht etwa in virtuellen Museumsräumen, in denen sich einzelne Menschen oder Gruppen bewegen können.
Umgesetzt werden solche Konstruktionen durch Hilfsmittel, deren Wirkungen eine Erweiterung der natürlichen Perzeptionsgewohnheiten ermöglichen, z.B. mithilfe von

  • nutzer- und situationsspezifisch wandelbaren Darstellungsvariationen und Arrangements oder
  • Interaktions- und Kommunikationstechniken, die Aussagen weiterleiten, in andere Kontexte einbinden und elektronisch auswerten können.

Die Wirkungen dieser Techniken lassen sich für die Gestaltung von Lern- und Prüfungssituationen nutzen, in denen Differenzierungen nach unterschiedlichen inhaltlichen oder didaktischen Kriterien, so etwa nach Lernvoraussetzungen, Interessenschwerpunkten oder Förderbedürfnissen, möglich sind. Texte lassen sich auf diese Weise in unterschiedlichen sprachlichen Fassungen (als Übersetzungen, Transkriptionen, Vereinfachungen, mit Kontextualisierungen etc.) bestimmten Nutzerinnen und Nutzern zur Verfügung stellen. Auch die Gestaltung medialer Verdichtungen zu bestimmten Themen ist denkbar.

Stilisierte grafische Darstellung, welche Sinnbeziehungen darstellen soll und an den Aufbau von Molekülen erinnert. In der Mitte ist eine Figur zu erkennen, die auf einem der Knotenpunkte balanciert.

Historisches Denken als Verknüpfung unterschiedlicher Informationen zu sinngebenden Narrationen

Wie vollzieht sich Geschichtsdenken und inwieweit kann es mit digitalem Konstruieren in Verbindung gebracht werden? Geschichte zu konstruieren, ist rein gedanklich am ehesten mit einer kugelförmigen 3D- oder 4D-Situation zu vergleichen: Der Geschichtsdenker/die Geschichtsdenkerin befindet sich gewissermaßen in der Mitte einer in jede Richtung hin offenen und unbegrenzten Raumsituation. Ausgehend von seinen/ihren Gegenwartsfragen kann er/sie jede Richtung in jeder ihm/ihr sinnvoll erscheinenden Tiefe erkunden, Erkundungsstränge nebeneinanderhalten oder miteinander verknüpfen. Die Welt ist eben gerade kein Zeitstrahl, der eine simple 2D-Abfolge von Vorher und Nachher erzeugt. Geschichtliches Wissen wird eben nicht sukzessive in einen Behälter gefüllt – eine Vorstellung, die Arthur C. Danto schon vor vielen Jahren in der Denkfigur des Idealen Chronisten geprüft und als unhistorisch verworfen hat.12
Was bedeutet das aber für unsere fachlichen Re-und De-Konstruktionen? Es bedeutet, dass Fächer, Themen und Untersuchungsweisen keineswegs deshalb zweidimensional gedacht werden müssen, weil das Buch zweidimensional ist. Die Vorstellung des unendlichen, von denkenden Menschen mit Sinnbeziehungen zu füllenden Raumes, dessen Richtungen und Tiefen wir entsprechend unserer Wissens- und Orientierungsbedürfnisse ausfüllen, ist eine Konstruktionsaufgabe, die, so scheint es, gegenwärtig am ehesten und überzeugendsten mit digitalen Mitteln zu bewältigen ist.

Digitale Konstruktionen erlauben es zudem, Konzeption und Format des analogen Buchs nachzubilden, um bei den Nutzerinnen und Nutzern durch eine Wiedererkennung der Buchästhetik die Bereitschaft zum Übertritt in die digitale Welt zu erhöhen. Zur Dämpfung von Verlustängsten können mithin etablierte Gewohnheiten der Buchnutzung nachgebildet werden. Physische Formatbeschränkungen lassen sich gleichwohl aufheben, wo das sinnvoll und notwendig ist. Der Medienexperte und -unternehmer Stephan Selle fasst diese Situation folgendermaßen zusammen: „Die Buchseite ist digital gesehen nur noch eine Fiktion”13.

Kriterien\Bucharten

papiergebundene Schulbücher

digital-multimediale Schulbücher

Rezeptionsweise

passiv aufnehmend
(„lesen und merken“)
einkanaliges Vorgehe
(Erkenntnisprozesse auf Sehen beschränkt14)
interaktive Nutzbarkeit und subjektive Korrelierbarkeit
nicht möglich

aktiv gestaltend
(subjektiv [de-]konstruierbar, kontextualisierbar, animierbar, individualisierbar)
mehrkanaliges Vorgehen
(Einbeziehung zweier menschlicher Sinne in Erkenntnisprozesse [etwa Sehen und Hören], Anregung von Kognition und Emotion)
interaktiv nutzbar
(Markierungen, Kommentare, Notizen/Annotationen, Auswahl- und Antwortfunktionen etc.)
subjektiv korrelierbar
(Abfolge der Content-Elemente veränderbar)

Reihenfolge der Rezeption

Inhalte nacheinander rezipierbar
(Notizen, Markierungen, Kommentare etc. nicht auf derselben technischen Ebene einzubinden, z.B. als handschriftliche oder systemfremde Zusätze)

Inhalte subjektiv koordinierbar
(Notizen, Markierungen, Kommentare etc. auf derselben technischen Ebene einzubinden; Angebote immer nur höchstens zwei Klicks entfernt)

Kontextualisierung

indirekt vernetzend
(Fußnoten)
verweisend
(Literaturangaben)
erschließend
(Register)

direkt vernetzend
(Verlinkungen, Einbettungen in „Umgebungen“)
einbeziehend
(Einbettung anderer Mediengenres)
auf Abruf erschließend
(Glossare, Erweiterungen, Vertiefungsangebote ,an Ort und Stelle‘ etc.)

Lebensdauer

nicht aktualisierbar
(Änderungen nur mit großem Aufwand möglich: Neuauflage)

aktualisierbar
(Änderungen mit geringem Aufwand möglich: Aktualisierungen)

Gestaltungs- und Rezeptionspotenziale analoger und digitaler (Schul-)Bücher

Wie wirkt sich das auf die Herstellung von Schulbüchern aus? Seit die digitale Technik künstliche Welten zu erschaffen vermag und diese in Lehr- und Lernzusammenhängen nutzbar sind, ist es prinzipiell möglich, die Realität entlang ausgewählter didaktischer Kriterien nachzubilden. Gamification etwa erlaubt nicht nur die Simulation realen menschlichen Lebens der Vergangenheit, sondern auch ungewöhnliche Perspektivenkonstruktionen: So lassen sich Gegenstände, komplexe Konstruktionen im Raum oder Geschehnisse der Vergangenheit aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten: Man kann sich etwa bei einer Schlacht vor, hinter oder neben Kanonenstellungen begeben, das Geschehen aus der Sicht von Infanterieeinheiten betrachten, Schlachtfelder und Siedlungen überspringen, um sich zu anderen Punkten im Raum zu bewegen und von dort aus neu in das Geschehen einzusteigen etc. Raum-Zeit-Konstellationen können also durch Digitalität absichtsvoll und nach individuellen Kriterien erschaffen und genutzt werden. Zudem werden auch Analyseaufgaben möglich, die deutlich mehr in ein Geschehen eindringen und Grundlagen für die Erarbeitung des berühmten „Kerns einer Sache“ legen.
Und damit finden insbesondere die Grundkategorien des Fachs Geschichte eine viel angemessenere mediale Entsprechung: Zeit kann nunmehr den Verlauf der Welt verdeutlichen. Sie wird also tatsächlich als eine von Menschen geschaffene, lebensweltliche Prozess- und Konstruktionsgröße deutlich und nutzbar (Ventzke 2018). In papierbasierten Büchern kollidiert diese Prozessualität mit der Statik des Produkts: Gedruckte Zeichen sind nun einmal unbeweglich. In digitalen Büchern hingegen wird die Charakteristik von Zeit erstmals darstellbar. Abläufe lassen sich in Konstruktionen ,beweglich‘ machen. Nutzerinnen und Nutzer können darüber auch selbst bestimmen, indem sie etwa beim Betrachten multiperspektivischer Darstellungen ausgewählte inhaltliche Abläufe fokussieren oder distanzieren, sie beliebig oft wiederholen oder in andere Darstellungsoptionen wechseln. Rezipienten können bestehende Raum-Zeit-Konstellationen gestalten, verwerfen oder neu schaffen.
Bei der Nutzung digitaler Techniken in unterrichtlichen Lehr- und Lernzusammenhängen entsteht folglich eine konstruktionsdidaktische Herausforderung, die darin liegt, dass sie die Konstruktionsbedingungen der analogen (digital nachgebildeten) sowie der digitalen Welt an sich reflektieren muss.

Geschichte und digitale Konstruktion

Historische Informationen und Erkenntnisse gewinnen Lernende in Unterrichtssituationen zumeist aus Texten, die auf sprachlichen Konstruktionsregeln (Konventionen) beruhen.15

Zu sehen ist eine Abwärtsspirale die 2000 beginnt und 1700 aufhört, auf der Spirale nehmen folgende Themen ihren Platz ein: Zeitausschnitt, Raum-/ Zeitpartikel, Rekonstruktion / Narration, Rezeption, Geschichtsbild, Dekonstruktion, Triftigkeitsprüfungen

Elemente historischer Re- und De-Konstruktionen

Aus welchem ,geschichtlichen Stoff‘ aber können digitale Welten erschaffen werden? Um auf diese Frage eine Antwort zu finden, darf man nicht aus den Augen verlieren, dass Geschichte außerhalb des menschlichen Geistes nicht an sich vorhanden ist. Über die Vergangenheit wissen wir aus ihren absichtsvollen oder unbeabsichtigten Hinterlassenschaften (also Traditions- und Überrestquellen). Diese sind jedoch, ganz gleich ob sich mit ihnen eine Wirkungsabsicht für spätere Generationen verbindet oder nicht, bereits Abstraktionen des Geschehens. Die Rechnung eines frühneuzeitlichen Handelskontors unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht von der weitreichenden Tagebuchreflexion eines Herrschers – beide Quellen sind vielleicht nur in unterschiedlichem Maße konkret. Geschichte wird also nicht aus der Vergangenheit an sich konstruiert, sondern aus menschlichen ,Gemachtheiten‘ über die Vergangenheit.
In diesem Konstruktionscharakter nun treffen sich geschichtliches und digitales Konstruieren in nahezu kongenialer Weise. Der Konstrukteur einer digitalbasierten (Spiel-)Welt ist dem Historiker vergleichbar: Beide werden zu Akteuren, indem sie die aus einer Distanz wahrgenommenen Phänomene zu absichtsvollen Narrationen gestalten. Eine der zentralen Verbindungen von Geschichte und Digitalität liegt indes in der befreienden Wirkung potenziell unbegrenzter digitaler Konstruktionen. Die durch Digitalität mögliche teilweise Loslösung von den natürlichen Gesetzen des menschlichen Lebens macht Geschichtsdenkerinnen und Geschichtsdenker darauf aufmerksam, dass das Ziel ihrer Raum-Zeit-Konstruktionen nicht im Nachvollzug der vergangenen Außenwelt besteht, sondern in einem gegenwärtigen Sinngebungsbemühen, das in seiner Art und Ausrichtung grundsätzlich zunächst völlig frei von Darstellungskonventionen ist.
Mit dieser Freiheitserkenntnis angemessen umzugehen, kann für Konstrukteurinnen und Konstrukteure des Geschichtlichen im Digitalen nur heißen, dass sie die Konstruktionsbedingungen reflektieren, nach denen eine (historische/digitale) Welt geschaffen wird, und dass sie die Eigenheiten der in unendlichen Varianten vorstellbaren Sinngebungsstränge untersuchen. Das lässt sich an folgender Überlegung verdeutlichen: Der Bildschirm, auf den digitale Konstrukteurinnen und Konstrukteure heute blicken, ist eine Schnittstelle zwischen analoger und digitaler Sphäre, ein Tor, ein Behelfsübergang zwischen zwei Welten.16 Vor dem Bildschirm liegen die Vorfestlegungen analoger technischer ‚Machbarkeiten‘ mit all ihren Begrenzungen, denen die natürlichen Raum- und Zeitbeziehungen korrespondieren. Zu diesen Begrenzungen gehört auch das Bildschirmfenster, weil es eben immer nur einen Ausschnitt zur Verfügung stellen kann. Hinter dem Schirm dagegen liegen der unendliche Raum und die unbegrenzte Zeit der digitalen Welt, in der materiell bedingte Formatbegrenzungen keine Rolle mehr spielen.

Eine Zeichnung im Cartoon-Format ist zu sehen, eine Person sitzt an einem Schreibtisch, über ihr ist eine Gedankenblase, in der gezeigt wird welche tolle Sachen sie alles in der virtuellen Realität machen könnte.

Der Übergang von der analogen in die digitale Welt

Digitalität ist damit ein sehr triftiges Argument für die Behauptung, Geschichte sei eine subjektiv bedeutsame Sinnkonstruktion. Und eben weil uns das vergangene Geschehen niemals als solches zugänglich ist, müssen wir spezifisch geformte Erkenntniswerkzeuge auf dieses Geschehen ausrichten, um es überhaupt wahrnehmen zu können. Zu solchen Werkzeugen zählen in unserer Gegenwart auch digitale.
Die sich den Herausforderungen der Konstruktionsdidaktik stellenden digitalen Konstrukteurinnen und Konstrukteure beginnen ihre Arbeit damit, dass sie alle Konstruktionselemente, die sie nutzen wollen, und deren Charakteristiken bewusst definieren. Sie wissen, dass erst danach Produkte entstehen. Die radikalste Vergegenwärtigung dieser Art von Konstruktivismus besteht im Bewusstsein über den leeren Bildschirm. Geschichtlich denkende Menschen beginnen das Konstruieren insofern immer wieder neu, als sie immer wieder neuen Sinn schaffen und darstellen müssen. Das bleibt auch so, solange sich die Welt verändert. Im digitalen Zeitalter gilt das Neuanfangen natürlich auch für Schulbücher und Lehrpläne. Nötig sind digitale Inkunabeln.

Literaturhinweise

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Zitiervorschlag: Florian Sochatzy und Marcus Ventzke (Hrsg.), Bildung digital gestalten, Eichstätt 2020, Kap. Digitaler Wandel und Konstruktionsdidaktik im Fach Geschichte https://bildung-digital-gestalten.institut-fuer-digitales-lernen.de/inhalt/digitaler-wandel-und-konstruktionsdidaktik 22.10.2020. content_copy kopiert!

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