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Schulbuchzulassung und digitale Lehr- und Lernmittel – Anmerkungen zur Frage, was sich ändern muss

Marcus Ventzke

Zulassungsverfahren in der Gegenwart

Lehr- und Lernmittel kommen nicht einfach so in die Schulen. Sie werden auf ihre Passfähigkeit mit den geltenden fachdidaktischen, pädagogischen und rechtlichen Rahmenbedingungen des Unterrichtens abgeglichen. Diese staatliche Prüfung ist sinnvoll, denn sie gibt dem Unterricht und den in ihm handelnden Personen eine Sicherheit über die fachliche Richtigkeit und rechtliche Unbedenklichkeit des eingesetzten Materials. Auf diese Weise entsteht ein tragfähiger Materialpool, der vor allem den Lehrenden die Möglichkeit eröffnet, mit den aktuellen Entwicklungen des Fachs und der Didaktik verbunden zu bleiben und sich gegenüber anderen Stakeholdern des schulischen Bildungsprozesses sowie der interessierten Öffentlichkeit jederzeit rechtfertigen zu können.
Das Ob und Wie der Schulbuchzulassung ist in der Bundesrepublik Deutschland immer wieder diskutiert worden, und es hat auch immer wieder Änderungen des Verfahrens gegeben. Dabei ging es sehr oft um die Effektivität des Verfahrens mit Blick auf die damit beauftragten Institutionen und Personen. Doch auch wenn einige Bundesländer die Verantwortung für die Einführung von Schulbüchern inzwischen von der Ebene zentraler Landeseinrichtungen auf die Schulen und die dortigen Fachschaften und Fachbereiche übertragen haben, gelten natürlich auch dann Regeln und Vorschriften. So dürfen Schulbücher beispielsweise auch im Land Berlin, das kein zentrales Verfahren mehr hat, laut Schulgesetz „Rechtsvorschriften nicht widersprechen“, sie müssen den „Zielen, Inhalten und Standards der Rahmenlehrpläne“ entsprechen, sollen wissenschaftliche Erkenntnisse widerspiegeln, selbstverständlich sachlich richtig sein und sich zudem innerhalb der politischen Grundvorstellungen des Bundeslandes und der Bundesrepublik insgesamt bewegen.1
Die generelle Begründung und Begründbarkeit der Zulassungsverfahren wird durch die Digitalisierung nicht wirklich berührt, auch wenn der Eindruck richtig ist, dass sich die schiere Menge an analogen wie digitalen Lehr- und Lernmittelangeboten in den letzten Jahren noch deutlich erhöht hat, und sich Fragen nach der Bewältigung dieser Angebotsmengen in Prüf- und Zulassungsverfahren stellen. Im Jahr 2017 brachten die Schulbuchproduzenten in Deutschland 5 490 Neuerscheinungen auf den Markt. Das waren immerhin stattliche 10 Prozent mehr als noch im Jahr 2016. Und auch 2016 war die Zahl im Vergleich zu 2015 schon um mehr als 14 Prozent angestiegen. Der Verband der Bildungsmedien gibt an, dass im Jahr 2018 40000 Schulbuchtitel lieferbar waren. An diesen arbeiteten etwa 35000 Autorinnen und Autoren.2 Auch wenn die Umsätze der Schulbuchverlage im digitalen Bereich bislang eher bescheiden sind, so drängen gleichwohl immer mehr Unternehmen auf den Markt, die vielfältige Angebote im Digitalbereich unterbreiten. Manchmal wünschen sich Lehrende auf diesem unübersichtlichen Markt sicher eine ordnende Hand, und doch ist diese Situation für sie nicht prinzipiell neu. Sie haben auch vor der Digitalisierung schon einen großen Teil ihrer Arbeitszeit darauf verwendet oder verwenden müssen, Materialangebote zu sichten, zu testen und ggf. in ihre Unterrichtsplanungen zu übernehmen. Und es war nie die Aufgabe von Zulassungsverfahren, „Positivlisten“ zu erstellen und in vormundschaftlicher Manier zu bestimmen, was im Unterricht genutzt und was nicht genutzt werden soll. Die Freiheit des Marktes und die Letztentscheidung der Lehrenden über das einzusetzende Material darf und soll in einer freien Gesellschaft nicht begrenzt werden.

Warum sich das Denken in Zulassungsverfahren ändern muss

Dass sich die Zulassungsverfahren gleichwohl ändern müssen, hängt damit zusammen, dass sie sich bislang zumeist noch sehr stark an den Eigenschaften des Mediums Buch orientieren. Wie selbstverständlich gingen Zulassungsverordnungen noch vor wenigen Jahren davon aus, dass Schulbücher Druckerzeugnisse sind (oder zu sein haben). Diese Annahme schimmert auch in aktuellen Verordnungen immer noch durch. So heißt es beispielsweise in der bayerischen Verordnung über die Zulassung von Lernmitteln in Paragraph 1: Schulbücher „können als Druckerzeugnisse (gedruckte Schulbücher) oder digitale Medien (digitale Schulbücher) zugelassen werden.“3 Gedruckt oder digital – aber Schulbücher bleiben es schon, so meint man zu lesen.
Genau da liegt aber das Problem. Mit digitaler Medienproduktion ist eben auch ein Wechsel der Organisationsform verbunden (vgl. dazu den Beitrag „Digitaler Wandel und Konstruktionsdidaktik im Fach Geschichte“ in diesem Band). Und daraus ergibt sich, dass bisherige Präsentationsweisen und Rezeptionsgewohnheiten sich ändern werden. Schulbücher müssen in Zukunft nicht mehr geschlossene Narrationen mit den gewohnten Inhaltselementen an immer denselben Stellen und mit immer demselben Funktionsumfang sein.
Mehr noch: In Zukunft dürfen Lehr- und Lernmittel auch nicht mehr die linearen, niveaustufenindifferenten und im Wesentlichen auf zwei Mediengenres (Text und Bild) gestützten Angebote sein, wenn sie den Anspruch erfüllen wollen, die immer lauter werdenden Forderungen nach Kompetenzerwerbsförderung, Differenzierung, Multiperspektivität, Diversität und Medienkompetenz umzusetzen.

Eine stark vereinfacht dargestellte Person steht oberhalb von weiteren kleineren Personen. Von ihr geht ein Pfeil in Richtung der anderen Figuren aus.

Das traditionelle, gedruckte Buch mit seiner Einheitsnarration korrespondiert mit dem lehrerzentrierten Unterricht, der einen Leistungskorridor definiert, von dem manche Lernenden abweichen.

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Für das Lernen der Zukunft wird es neue Präsentationsformen und Materialangebote mit viel mehr Auswahlmöglichkeiten geben müssen. Eine Entwicklung unterschiedlicher medialer Organisationsformen ist im Lehr- und Lernmittelbereich heute auch bereits erkennbar. Die Palette reicht dabei vom statischen, gedruckten Buch bis hin zu offenen, multimedialen Lernumgebungen mit vielfältigen Inhalts- und Methodenangeboten.

Diagramm zur möglichen Entwicklung vollcurricularer digitaler Unterrichtsmedien

Mögliche Entwicklung vollcurricularer Unterrichtsmedien

Für die Zulassung solcher Medien ergeben sich damit viele Fragen, u. a.:

  1. Sind komplexere digitale Lernangebote aus Zulassungssicht „Schulbücher“? Und unterliegen sie dann traditionellen Erwartungen an die Organisationsform Buch?4
  2. Wie gehen Zulassungsverfahren damit um, dass Schulbuchinhalte zukünftig in ver- netzter Form vorliegen, also einer Form, die es Lehrenden und Lernenden ermöglicht, mit wenigen Klicks von jeder beliebigen Stelle des Lehr- und Lernmaterials an jede andere Stelle des Materials zu gelangen?5 Was hat dies für Folgen, beispielsweise bei der Prüfung von Lernprogressionen?
  3. Wie reagieren Zulassungsverfahren auf die Veränderbarkeit des Inhalts digitaler Schulbücher?6
  4. Wie gehen Zulassungsverfahren mit individualisierbaren Inhalten um?7

Wirkungen der Produktion gedruckter und digitaler Schulbücher

Im digitalen Zeitalter sind die mit analoger Produktionsweise verbundenen Begrenzungen an vielen Stellen aufgehoben. Das betrifft u. a. die Tatsache, dass die Unveränderlichkeit des Gedruckten nicht mehr besteht. Das Gedruckte kann, wenn es einmal gedruckt ist, inhaltlich nicht revidiert, erweitert, vertieft oder neu kontextualisiert werden. Das hat erhebliche Konsequenzen für die Auswahl und Gestaltung von Inhalten, weil beispielsweise sachliche Fehler schwerwiegende Folgen haben können.8 Wenn etwa die Öffentlichkeit mit den Inhalten eines gedruckten Schulbuchs nicht einverstanden ist, können sich Verlage gezwungen sehen, ganze Auflagen zurückzuziehen. Der wirtschaftliche Schaden kann enorm sein. Die daraus folgenden Konsequenzen für die Produktion gedruckter Bücher liegen auf fachlicher, fachdidaktischer, rechtlicher und kommunikativer Ebene:

  • In fachlicher und fachdidaktischer Hinsicht kann seitens der Verlage die Tendenz bestehen, vor allem unstrittige Narrationen und bekannte Vermittlungsstrategien in ihre Angebote zu übernehmen.
  • Die rechtliche Absicherung der kommerziellen Verwendbarkeit ausgewählter Materialien bewegt sich zumeist innerhalb eines nationalen und traditionellen Rahmens.
  • Kritische Kommunikation zwischen Unterrichtenden und Schulbuchproduzenten/ -autoren oder zwischen Unterrichtenden und Lernenden über Materialauswahl und didaktische Ansätze wird eher vermieden.

Gedruckte Schulbücher scheinen daher nicht selten so angelegt, dass sie

  • Verallgemeinerung signalisieren und Differenzierung eher verhindern,
  • Meinungsbildung tendenziell eher nicht fördern oder sie banalisieren,
  • das eigene Vorgehen und die eigenen Verantwortlichkeiten nicht herausstellen und damit Konstruktionstransparenz als Förderinstrument eher vernachlässigen,
  • auf der Materialebene rechtliche Prüfungen des Materials eher vermeiden wollen, statt sie zu unternehmen. Der Status quo wird damit bewahrt und die seit langer Zeit bekannten und anerkannten gedruckten Medieninhalte und Mediengenres (Text und Bild) werden gern mehrfach genutzt. Neue(re)n Medieninhalten und Mediengenres (Filme, Internetseiten, Datenbanken, digitale Kommunikationsforen etc.) stehen traditionelle Produzenten daher nicht selten skeptisch gegenüber.

Die auf diesen Grundlagen beruhende Lehr- und Lernmittelproduktion ist letztlich bestrebt, die ‚sichere Mitte‘ zu finden, statt Anstöße zu geben, Positionen und Urteile von Autorinnen und Autoren transparent zu machen, alternative Ansätze zu zeigen und Revisionsfähigkeit als Wert vorzuführen.
Gedruckte Lehr- und Lernmaterialien sind statisch, digitale hingegen sind in der Lage, Prozesse abzubilden. Fachliche Änderungen, Weiterentwicklungen und Irrtümer werden in digitalen Materialien zum Bestandteil von Lernprozessen:

  • Man kann den Schülerinnen und Schülern z.B. die Bedeutung von Quellennachweisen anhand der in digitalen Materialien aufrufbaren Daten zu Urheberschaft und Nutzung verdeutlichen und dabei etwa auch das System der CC-Lizenzen im Internet erläutern.
  • Neue Erkenntnisse der Fachwissenschaften lassen sich viel schneller in digitale Lehr- und Lernmaterialien integrieren.
  • Fehler lassen sich beheben und darüber kann es Kommunikation mit denjenigen geben, die solche Fehler entdeckt haben. Damit entsteht eine transparente Fehlerkultur, die im Umgang mit Schulbüchern bis heute praktisch nicht existiert, obwohl es keine fehlerfreien Bücher gibt und niemals gegeben hat.

Hinweise für die Veränderung/Ergänzung der Zulassungsverfahren für digitale Lehr- und Lernmittel

Im Zulassungsverfahren stellen sich zwei grundsätzliche Fragen:

  1. Wie kann der digitale Mehr- und Neuwert für unterrichtliche Erkenntnisprozesse erfasst werden?
  2. Wie verdeutlicht das Lehr- und Lernmittel den mit der digitalen Revolution verbundenen grundsätzlichen Wandel unserer Konventionen über Raum und Zeit, Arbeitswelt, Sozialität, Bildung (lebenslanges Lernen), gesellschaftlich-politische Organisation sowie Werte und Normen?

Die Nutzbarmachung inhaltlich unveränderter analoger Manuskripte mit digitalen Mitteln kann also nicht als Digitalisierung von Lehr- und Lernmitteln verstanden werden.9 Es geht vielmehr darum zu verstehen, dass Lehr- und Lernmittel einen mit analogen Mitteln nicht oder nur mit unvertretbar hohem Aufwand realisierbaren Nutzen für die Prozesse der Erkenntnisgewinnung beinhalten können.
Um digitale Lehr- und Lernmittel angemessen zu prüfen, müssen Zulassungsverfahren folglich so verändert werden, dass die mit digitalen Medien verbundenen Chancen Berücksichtigung finden.
Hier sind vor allem folgende Bereiche zu nennen:

  • Zugang (Lizenzerteilung, Individualisierung und gruppenspezifische Zugänge, Problemmanagement – z.B. bei verlorenem Passwort – etc.)
  • Handling (Navigation, Ordnung des Materials, Umgang mit Verlinkungen, Erreichbarkeit verschiedener Medien etc.)
  • Unterrichtsarbeit/Unterrichtskommunikation (Zugänglichkeit der Materialien, Multimedialität, Differenzierbarkeit, alternative Narrationen, methodische Werkzeuge etc.)
  • Datenschutz/Rechte (Datenerhebung, -verwahrung und -verwendung, rechtlicher Status des Lehr- und Lernmittels – kommerzielles Produkt, OER – etc.)

Folgende Einzelkriterien könnten in das Zulassungsverfahren einfließen:10

  1. Ist das Lehr- und Lernmittel multimedial?
  2. Wie ist mit der Veränderbarkeit zugelassener Lehr- und Lernmittel umzugehen, wenn z.B. Aktualisierungen vorgenommen werden?
  3. Wie umfangreich oder begrenzt verknüpft sich das digitale Lehr- und Lernmittel mit dem Internet?
  4. Wie gestaltet das Lehr- und Lernmittel den Übergang zwischen digitaler und analoger Welt?
  5. Wie wird die (erhöhte) Fülle des Materials geordnet (Inhaltsmanagement)?
  6. Welche Möglichkeiten zur Individualisierung und (nutzergruppenspezifischen) Differenzierung gibt es?
  7. Gibt es technisch unterstützte Möglichkeiten zur Bildung unterschiedlicher sozialer Formationen (Zuweisung ausgewählter Materialien zu unterschiedlichen
    Arbeits- und Sozialformen)?
  8. Bietet das Lehr- und Lernmittel Möglichkeiten zur Unterstützung unterrichtlicher Kommunikation?
  9. Welche digitalbasierten Analyse-, Übungs- und Präsentationswerkzeuge enthält das Lehr- und Lernmittel?
  10. Wie unkompliziert (oder kompliziert) ist die Handhabung der Navigationssysteme?
  11. Können Lernende im Lehr- und Lernmittel arbeiten (Markierungen und Notizen einfügen etc.)?
  12. Ist die Arbeit an interaktiven Elementen möglich?
  13. Sind inhaltliche Erweiterungen/Vertiefungen sowie fachmethodische Arbeitsbereiche mit digitalen Werkzeugen integriert?
  14. Ist eine Nutzergruppenspezifik möglich (Trennung und Verbindung von ,Schülerversion‘ und ,Lehrerversion‘)?
  15. Wurde Konstruktionstransparenz medial anspruchsvoll umgesetzt?
  16. Werden die rechtlichen Bestimmungen des Urheber- und Nutzungsrechts für Inhalte aus dem Internet eingehalten?
  17. Werden Datenschutzbestimmungen eingehalten (Erhebung personenbeziehbarer Daten nur aus dem allgemein anerkannten Zweck schulischen Unterrichts)?
  18. Werden Standards zur Barrierefreiheit berücksichtigt (Web-Content-Accessibility- Guidelines etc.)?
  19. Bietet das Lehr- und Lernmittel alternative Zugänge, Multiperspektivik und alternative Medien an?
  20. Eröffnet das technische System des digitalen Lehr- und Lernmittels die Möglichkeit, Nutzerdaten zu erfassen und weiterzuleiten?

Nicht zuletzt müssen Zulassungsverfahren in Zukunft im Blick behalten, dass im Unter- richt hinsichtlich der Lehr- und Lernmittel eine Mischung unterschiedlicher Angebote entstehen kann. Gedruckte Bücher sollen und werden nicht an einem vermeintlichen Stichtag aus dem Unterricht verschwinden, und nicht in jedem Fach und an jeder Schule wird es in absehbarer Zeit individualisierte Schulbücher oder Lernplattformen geben. Zulassungsverfahren müssen also auch in Zukunft auf Standards basieren, die übergreifend anwendbar sind, ohne die Spezifik einzelner medialer Angebote zu negieren.

Zahnräder hängen unverknüpft im leeren Raum. Sie sind mit den Begriffen Lernplattform, Lernumgebung, individualisiertes Schulbuch, enhanced eBook, digital-multimediales Schulbuch und  gedrucktes, statisches Buch beschriftet.

Keine isolierten Prüfverfahren, ...

Zusammenhängende Zahnräder im leeren Raum. Sie sind mit den Begriffen Lernplattform, Lernumgebung, individualisiertes Schulbuch, enhanced eBook, digital-multimediales Schulbuch und  gedrucktes, statisches Buch beschriftet.

... sondern vernetztes Denken.

Zitiervorschlag: Florian Sochatzy und Marcus Ventzke (Hrsg.), Bildung digital gestalten, Eichstätt 2020, Kap. Schulbuchzulassung und digitale Lehr- und Lernmittel – Anmerkungen zur Frage, was sich ändern muss https://bildung-digital-gestalten.institut-fuer-digitales-lernen.de/inhalt/schulbuchzulassung 23.10.2020. content_copy kopiert!

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