Lehr- und Lernmittel kommen nicht einfach so in die Schulen. Sie werden auf ihre Passfähigkeit mit den geltenden fachdidaktischen, pädagogischen und rechtlichen Rahmenbedingungen des Unterrichtens abgeglichen. Diese staatliche Prüfung ist sinnvoll, denn sie gibt dem Unterricht und den in ihm handelnden Personen eine Sicherheit über die fachliche Richtigkeit und rechtliche Unbedenklichkeit des eingesetzten Materials. Auf diese Weise entsteht ein tragfähiger Materialpool, der vor allem den Lehrenden die Möglichkeit eröffnet, mit den aktuellen Entwicklungen des Fachs und der Didaktik verbunden zu bleiben und sich gegenüber anderen Stakeholdern des schulischen Bildungsprozesses sowie der interessierten Öffentlichkeit jederzeit rechtfertigen zu können.
Das Ob und Wie der Schulbuchzulassung ist in der Bundesrepublik Deutschland immer wieder diskutiert worden, und es hat auch immer wieder Änderungen des Verfahrens gegeben. Dabei ging es sehr oft um die Effektivität des Verfahrens mit Blick auf die damit beauftragten Institutionen und Personen. Doch auch wenn einige Bundesländer die Verantwortung für die Einführung von Schulbüchern inzwischen von der Ebene zentraler Landeseinrichtungen auf die Schulen und die dortigen Fachschaften und Fachbereiche übertragen haben, gelten natürlich auch dann Regeln und Vorschriften. So dürfen Schulbücher beispielsweise auch im Land Berlin, das kein zentrales Verfahren mehr hat, laut Schulgesetz „Rechtsvorschriften nicht widersprechen“, sie müssen den „Zielen, Inhalten und Standards der Rahmenlehrpläne“ entsprechen, sollen wissenschaftliche Erkenntnisse widerspiegeln, selbstverständlich sachlich richtig sein und sich zudem innerhalb der politischen Grundvorstellungen des Bundeslandes und der Bundesrepublik insgesamt bewegen.1
Die generelle Begründung und Begründbarkeit der Zulassungsverfahren wird durch die Digitalisierung nicht wirklich berührt, auch wenn der Eindruck richtig ist, dass sich die schiere Menge an analogen wie digitalen Lehr- und Lernmittelangeboten in den letzten Jahren noch deutlich erhöht hat, und sich Fragen nach der Bewältigung dieser Angebotsmengen in Prüf- und Zulassungsverfahren stellen. Im Jahr 2017 brachten die Schulbuchproduzenten in Deutschland 5 490 Neuerscheinungen auf den Markt. Das waren immerhin stattliche 10 Prozent mehr als noch im Jahr 2016. Und auch 2016 war die Zahl im Vergleich zu 2015 schon um mehr als 14 Prozent angestiegen. Der Verband der Bildungsmedien gibt an, dass im Jahr 2018 40000 Schulbuchtitel lieferbar waren. An diesen arbeiteten etwa 35000 Autorinnen und Autoren.2 Auch wenn die Umsätze der Schulbuchverlage im digitalen Bereich bislang eher bescheiden sind, so drängen gleichwohl immer mehr Unternehmen auf den Markt, die vielfältige Angebote im Digitalbereich unterbreiten. Manchmal wünschen sich Lehrende auf diesem unübersichtlichen Markt sicher eine ordnende Hand, und doch ist diese Situation für sie nicht prinzipiell neu. Sie haben auch vor der Digitalisierung schon einen großen Teil ihrer Arbeitszeit darauf verwendet oder verwenden müssen, Materialangebote zu sichten, zu testen und ggf. in ihre Unterrichtsplanungen zu übernehmen. Und es war nie die Aufgabe von Zulassungsverfahren, „Positivlisten“ zu erstellen und in vormundschaftlicher Manier zu bestimmen, was im Unterricht genutzt und was nicht genutzt werden soll. Die Freiheit des Marktes und die Letztentscheidung der Lehrenden über das einzusetzende Material darf und soll in einer freien Gesellschaft nicht begrenzt werden.
Dass sich die Zulassungsverfahren gleichwohl ändern müssen, hängt damit zusammen, dass sie sich bislang zumeist noch sehr stark an den Eigenschaften des Mediums Buch orientieren. Wie selbstverständlich gingen Zulassungsverordnungen noch vor wenigen Jahren davon aus, dass Schulbücher Druckerzeugnisse sind (oder zu sein haben). Diese Annahme schimmert auch in aktuellen Verordnungen immer noch durch. So heißt es beispielsweise in der bayerischen Verordnung über die Zulassung von Lernmitteln in Paragraph 1: Schulbücher „können als Druckerzeugnisse (gedruckte Schulbücher) oder digitale Medien (digitale Schulbücher) zugelassen werden.“3 Gedruckt oder digital – aber Schulbücher bleiben es schon, so meint man zu lesen.
Genau da liegt aber das Problem. Mit digitaler Medienproduktion ist eben auch ein Wechsel der Organisationsform verbunden (vgl. dazu den Beitrag „Digitaler Wandel und Konstruktionsdidaktik im Fach Geschichte“ in diesem Band). Und daraus ergibt sich, dass bisherige Präsentationsweisen und Rezeptionsgewohnheiten sich ändern werden. Schulbücher müssen in Zukunft nicht mehr geschlossene Narrationen mit den gewohnten Inhaltselementen an immer denselben Stellen und mit immer demselben Funktionsumfang sein.
Mehr noch: In Zukunft dürfen Lehr- und Lernmittel auch nicht mehr die linearen, niveaustufenindifferenten und im Wesentlichen auf zwei Mediengenres (Text und Bild) gestützten Angebote sein, wenn sie den Anspruch erfüllen wollen, die immer lauter werdenden Forderungen nach Kompetenzerwerbsförderung, Differenzierung, Multiperspektivität, Diversität und Medienkompetenz umzusetzen.
Das traditionelle, gedruckte Buch mit seiner Einheitsnarration korrespondiert mit dem lehrerzentrierten Unterricht, der einen Leistungskorridor definiert, von dem manche Lernenden abweichen.
Für das Lernen der Zukunft wird es neue Präsentationsformen und Materialangebote mit viel mehr Auswahlmöglichkeiten geben müssen. Eine Entwicklung unterschiedlicher medialer Organisationsformen ist im Lehr- und Lernmittelbereich heute auch bereits erkennbar. Die Palette reicht dabei vom statischen, gedruckten Buch bis hin zu offenen, multimedialen Lernumgebungen mit vielfältigen Inhalts- und Methodenangeboten.
Für die Zulassung solcher Medien ergeben sich damit viele Fragen, u. a.:
Im digitalen Zeitalter sind die mit analoger Produktionsweise verbundenen Begrenzungen an vielen Stellen aufgehoben. Das betrifft u. a. die Tatsache, dass die Unveränderlichkeit des Gedruckten nicht mehr besteht. Das Gedruckte kann, wenn es einmal gedruckt ist, inhaltlich nicht revidiert, erweitert, vertieft oder neu kontextualisiert werden. Das hat erhebliche Konsequenzen für die Auswahl und Gestaltung von Inhalten, weil beispielsweise sachliche Fehler schwerwiegende Folgen haben können.8 Wenn etwa die Öffentlichkeit mit den Inhalten eines gedruckten Schulbuchs nicht einverstanden ist, können sich Verlage gezwungen sehen, ganze Auflagen zurückzuziehen. Der wirtschaftliche Schaden kann enorm sein. Die daraus folgenden Konsequenzen für die Produktion gedruckter Bücher liegen auf fachlicher, fachdidaktischer, rechtlicher und kommunikativer Ebene:
Gedruckte Schulbücher scheinen daher nicht selten so angelegt, dass sie
Die auf diesen Grundlagen beruhende Lehr- und Lernmittelproduktion ist letztlich bestrebt, die ‚sichere Mitte‘ zu finden, statt Anstöße zu geben, Positionen und Urteile von Autorinnen und Autoren transparent zu machen, alternative Ansätze zu zeigen und Revisionsfähigkeit als Wert vorzuführen.
Gedruckte Lehr- und Lernmaterialien sind statisch, digitale hingegen sind in der Lage, Prozesse abzubilden. Fachliche Änderungen, Weiterentwicklungen und Irrtümer werden in digitalen Materialien zum Bestandteil von Lernprozessen:
Im Zulassungsverfahren stellen sich zwei grundsätzliche Fragen:
Die Nutzbarmachung inhaltlich unveränderter analoger Manuskripte mit digitalen Mitteln kann also nicht als Digitalisierung von Lehr- und Lernmitteln verstanden werden.9 Es geht vielmehr darum zu verstehen, dass Lehr- und Lernmittel einen mit analogen Mitteln nicht oder nur mit unvertretbar hohem Aufwand realisierbaren Nutzen für die Prozesse der Erkenntnisgewinnung beinhalten können.
Um digitale Lehr- und Lernmittel angemessen zu prüfen, müssen Zulassungsverfahren folglich so verändert werden, dass die mit digitalen Medien verbundenen Chancen Berücksichtigung finden.
Hier sind vor allem folgende Bereiche zu nennen:
Folgende Einzelkriterien könnten in das Zulassungsverfahren einfließen:10
Nicht zuletzt müssen Zulassungsverfahren in Zukunft im Blick behalten, dass im Unter- richt hinsichtlich der Lehr- und Lernmittel eine Mischung unterschiedlicher Angebote entstehen kann. Gedruckte Bücher sollen und werden nicht an einem vermeintlichen Stichtag aus dem Unterricht verschwinden, und nicht in jedem Fach und an jeder Schule wird es in absehbarer Zeit individualisierte Schulbücher oder Lernplattformen geben. Zulassungsverfahren müssen also auch in Zukunft auf Standards basieren, die übergreifend anwendbar sind, ohne die Spezifik einzelner medialer Angebote zu negieren.
Zitiervorschlag: Florian Sochatzy und Marcus Ventzke (Hrsg.), Bildung digital gestalten, Eichstätt 2020, Kap. Schulbuchzulassung und digitale Lehr- und Lernmittel – Anmerkungen zur Frage, was sich ändern muss https://bildung-digital-gestalten.institut-fuer-digitales-lernen.de/inhalt/schulbuchzulassung 23.10.2020. content_copy kopiert!
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