Auf Inseln die im leeren Raum schweben sind verschiedene virtuelle Realitäten als Abbild der Lebenswirklichkeit angedeutet

Ausblick auf Bildung und Schule von morgen: Schule in Virtual Reality

Florian Sochatzy Johannes Grapentin & Marcus Ventzke

Was Schule in der Gegenwart ist und was wir in Zukunft brauchen

Das mBook-Projekt war von Anfang an als Transformations- und Entwicklungsprojekt konzipiert. Die zentrale Frage war hierbei, inwiefern Lehrende und Lernende beim Erwerb von Kompetenzen unterstützt werden können: Wie kann ein (digitales) Lernmittel Prozesse fördern, die es ermöglichen, kritisch, kommunikativ, kollaborativ und kreativ mit den Inhalten eines Faches umzugehen? Das mBook setzt somit auf UnterrichtsEvolution, nicht auf System-Revolution.
Erfahrungsgemäß entwickelt Digitalität ab einem gewissen Punkt die Kraft fundamentaler Disruption.1 Und so ist es auch nie zu früh, sich über die revolutionäre Phase Gedanken zu machen. Was kommt nach einem multimedialen Schulbuch?
Gegenwärtig haben einige neue – wenngleich noch in der Marktreifung befindliche – Technologien das Potenzial, Bildungsprozesse nachhaltig zu verändern, beispielsweise Augmented Reality (AR), Virtual Reality (VR) und datengestützte Assistenzsyteme (Machine Learning).
Die folgenden Ausführungen widmen sich den Potenzialen von VR im schulischen Bereich: Liegt in VR gar das Potenzial für eine Neu-Konzeption von Schule?

Wozu haben wir heute eigentlich noch Schulen? Und welche Funktion geben wir ihnen? Diese Fragen sind angesichts der permanenten Debatte über die fundamentalen Probleme staatlicher Schulen, die technischen Wandlungsprozesse unserer Gegenwart und die immer stärkere Infragestellung des traditionellen Bildungsvertrags keineswegs unangemessen. Nicht selten erscheinen Schulen der Gegenwart wie Einrichtungen einer anderen Epoche. Und diese Beobachtung ist nicht falsch. Das Bildungskasernenhafte des 19. Jahrhunderts ist heute zwar de jure obsolet, die aus der wilhelminischen Zeit überkommenen Schulbauten mit ihren langen Gängen, ihren Zimmerfluchten, Stundensignalen und Pausenaufsichten haben indes noch immer Einfluss auf die alltägliche Organisation des Lernens und – viel bedenklicher – auf die öffentlichen Erwartungen an Schule.2
Das Schulverständnis der Gegenwart definiert sich in Deutschland sehr oft noch immer entlang der simplen Assoziation Schule = Bauwerk. Das klingt zunächst eingängig, muss aber keineswegs so sein. Schule sollte in Zukunft verstärkt (wieder) als Organismus, Kommunikationsnetz und intentionaler Zusammenhang gedacht werden. Schulen müssen nicht baulich isoliert, an bestimmte Orte fixiert sowie als Teil einer regionalen und überregionalen Verwaltung betrieben werden. Die Abhängigkeiten vor allem staatlicher Schulen von übergeordneten bürokratischen Prozessen und politischen Erwägungen binden sie oftmals in sachfremde Kontexte ein, die ihre innere wie äußere Existenz beeinflussen, nicht selten sogar beeinträchtigen: Viele staatliche Schulen in Deutschland sind beispielsweise gegenwärtig personell unterbesetzt, baulich marode und erschreckend schlecht ausgestattet. Gegen Bildungsungerechtigkeit sind sie weitgehend machtlos, und der Kern ihrer Tätigkeit liegt allzu oft im lehrergesteuerten Auswendiglernen von Informationspartikeln.3
Das alles zeigt: Die zeitlichen, räumlichen, organisatorischen, personellen und nicht zuletzt inhaltlich-didaktischen Strukturen des gegenwärtigen Bildungssystems sind für moderne Bildungsziele überwiegend ungeeignet, da sie immer noch darauf ausgerichtet sind, dass alle Lernenden in vorgegebenen Zeiteinheiten dasselbe memorieren und daraufhin nach einheitlichen Maßstäben für die korrekte Wiedergabe statischer Wissenspartikel beurteilt und letztlich selektiert werden. Noch immer prägt nicht das Begreifen, Erfahren, Verstehen, Erarbeiten und Abstrahieren die Lernbiografie der Schülerinnen und Schüler, sondern das Auswendiglernen eines bestehenden Fakten- und Wissenskanons.
Im Zeitalter digitaler Transformation stehen Gesellschaften jedoch vor völlig anderen Herausforderungen, und folglich muss auch Bildung unter diesen veränderten Vorzeichen gedacht werden.
In der digitalen Welt benötigen wir:

  • themen- und medienbasierte Aufgabenzugewandtheit,
  • lebensnahe, auf die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft bezogene Lerngegenstände,
  • individuelle Lernwege, die zu flexiblen, interessens-, sach- und lernstandsbezogenen Gruppenbildungen führen,
  • problemlösungsorientierte Lernszenarien, die bisherige Erarbeitungs- und Verarbeitungskonventionen überschreiten,
  • eine umfassende Persönlichkeitsbildung, die es ermöglicht, soziale Kompetenz, ästhetisches Bewusstsein, emotionales Erleben und entscheidungsfähiges Verantwortungsgefühl auszuprägen, um Gesellschaft konstruktiv gestalten zu können.

Wenn in der Gegenwart Bildung als die wichtigste Ressource für die Entwicklung eines modernen Gemeinwesens beschrieben wird, so ist damit die bestmögliche individuelle Entfaltung menschlicher Potenziale gemeint, nicht die Implementierung und Abrufbarkeit möglichst ähnlicher oder gar gleicher Fertigkeiten bestimmter Gruppen.
Moderne Bildung richtet sich auf:

  • die Entwicklung und versatile Anwendung von Kreativität und Handlungsfähigkeit in unbekannten Situationen,
  • Möglichkeiten persönlicher Formung, Verwirklichung und ,Neuerfindung‘ in einer sich ständig verändernden Welt.

Moderne Bildung erfordert daher die Entwicklung von variablen Problemlösungskompetenzen möglichst vieler Lernerinnen und Lerner, die sich als vernetzte Kreative verstehen, und sie fördert deshalb die Fähigkeit jedes Einzelnen,

  • sich von Vorfindlichem zu distanzieren,
  • es kritisch zu analysieren,
  • bekannte Handlungsmuster und Wissensbestände neu zu gruppieren und
  • Fehlstellen durch Neuschöpfungen auszufüllen.

Schule in virtueller Realität als potenzieller Bildungserneuerer

Die technische Entwicklung im Bereich der virtuellen Realität ist bereits heute so weit gediehen, dass immersive Erfahrungen möglich sind. Sinkende Kosten für Hardware-Ausstattungen und eine stetig wachsende Auswahl an verfügbaren VR-Settings stoßen derzeit die Tür zu einem Massenmarkt für virtuelle Realität weit auf. Virtual Reality verlässt damit die Sphäre wissenschaftlicher Testlabore und medialer Modellprojekte. Sie wird in Kürze zur Alltagskultur gehören, sie möglicherweise sogar entscheidend prägen. Folglich erhebt sich die Frage, inwieweit VR auch elementarer Bestandteil von Bildungsvorgängen werden wird. Angesichts der rasanten technischen Entwicklung lassen sich nun Lernräume denken und umsetzen, die zunächst schulergänzend und in einem nächsten Schritt teilweise schulersetzend sein könnten. Tech-Unternehmen arbeiten sehr wahrscheinlich an Möglichkeiten, den Bildungsmarkt mithilfe von VR-Technik umzuwälzen – und das natürlich in einem globalen Maßstab.4 Komplette VR-Schulen, die von diesen Unternehmen bedürfnisgerecht entwickelt und betrieben werden, sind längst keine Utopie (oder Dystopie, je nach Standpunkt) mehr. Aus diesem Grund ist es heute zwingend erforderlich, sich auf eine derartige Schule in virtueller Realität auf theoretischer Ebene, aber auch auf Grundlage praktisch-empirischer Erfahrungen, vorzubereiten.
Die folgenden Überlegungen entwickeln einige Kriterien für eine Schule in der virtuellen Realität. Eine potenziell derartig disruptive Konzeption sollte nicht allein gewinnorientierten Wirtschaftsunternehmen überlassen bleiben. Wir müssen daher in Forschung und (Unterrichts-)Praxis Erkenntnisse gewinnen, um die Entwicklung in diesem Bereich mitgestalten zu können.
Zunächst: Schule in virtueller Realität kann eine Bildungsinfrastruktur sein, die sich in unterschiedliche Lernräume gliedert, die, unabhängig von materiell-räumlichen Gegebenheiten, ein Erkenntnisumfeld für Lernende und ein Lehrumfeld für Unterrichtende bereitstellt.
Im Zusammenhang mit anderen Kriterien, die Schulentwicklung gegenwärtig bestimmen oder bestimmen sollten – von der Kompetenzorientierung über die Digitalisierung bis zur Globalisierung – lassen sich mit Blick auf die Schule in virtueller Realität Kriterien formulieren, die zwar lediglich einen vorläufigen Erkenntnisstand repräsentieren, jedoch eingebettet sind in grundlegende gesellschaftliche und ökonomische Prägungen der Gegenwart (Schlagwort „VUCA-Welt“).5 Diese Kriterien müssen sich daher jederzeit einer theoretischen, empirischen und praktischen Kritik stellen.

  1. Die Schule in virtueller Realität basiert lerntheoretisch auf Konstruktivismus und Konnektivismus. Sie bestimmt die Interdependenzen zwischen äußeren Rahmenbedingungen und inneren Gestaltungsprozessen von Schule und Lernen in der digitalen Welt neu.
  2. Lernen wird verstanden als inklusive Suche nach Lösungen. Der Zugriff auf und die Verarbeitung von Informationen ist dabei eine notwendige Bedingung unterrichtlicher Arbeit, nicht ihr Ziel.
  3. Die 21-century-skills (Kreativität, Kommunikation, Kollaboration und kritisches Denken) bilden den pädagogisch-didaktischen Rahmen der Entwicklung von Erfahrungs-, Analyse-, Anwendungs- und Reflexionsbereichen der Schule in virtueller Realität. Mit diesem Rahmen werden fachdidaktische Kompetenzmodelle und Themenaufbereitungen verbunden.
  4. Lern-, Arbeits- und Erfahrungsräume werden nicht in Abhängigkeit von der derzeitigen Schulpraxis konzipiert. Erkenntnisse aus Architekturpsychologie, pädagogischer Raumforschung, internationaler Schulbauforschung etc. dienen als Grundlage für eine Neukonstruktion und -bewertung des schulischen Lebens- und Arbeitsraums und können damit erstmalig konsequent umgesetzt werden.
  5. Didaktische Reduktion der fachlichen Themen führt nicht zu einem qualitativen Verlust. Lerngegenstände werden damit nicht von den sie tragenden Ideen und Konzepten isoliert. Mediale Präsentationen ermöglichen genetisches Verstehen. Auswahlentscheidungen und Vorgehensweisen werden transparent gemacht.
  6. Die auf Sprache und gedruckten Text vereinseitigten medialen Darstellungsweisen des analogen Zeitalters werden diversifiziert. Die oftmals unzureichenden Themen- und Problemrepräsentationen der „alten Erfahrungswelt“ werden in Erfahrungsszenarien aufgelöst, die dem menschlichen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsvermögen entsprechen: Zustände und Prozesse bleiben auch in medialen Repräsentationen Zustände und Prozesse, werden also als Verharrung und Bewegung dargestellt. Abstraktionsbedingte Komplexitätsverdichtungen werden beseitigt, wenn sie verstehensverhindernde Barrieren darstellen.
  7. In den Erfahrungswelten der Schule in virtueller Realität werden menschliches Handeln und gesellschaftliche Strukturen nicht grundsätzlich textlich kodiert. Sie werden medial ,humanisiert‘ bzw. ,rehumanisiert‘, da Menschen in beweglichen, dichten Bildern und Situationen denken.
  8. Vertiefte und erweiterte digitale Analysemöglichkeiten werden zur methodischen Arbeit in den Fächern genutzt.
  9. Differenzierung wird zum Standard: Wie in einem Open-World-Adventure führen unterschiedliche Wege zu unterschiedlichen Varianten, Schwerpunkten und Lerngegenständen.
  10. Individualisierung ist ein Grundprinzip der Schule in virtueller Realität. Das meint zum einen den individuellen Zugang zu Erfahrungs- und Arbeitsbereichen. Dazu gehört, dass die eigenen Erfahrungen, Vorgehensweisen und Arbeitsergebnisse jederzeit gespeichert und verfügbar gemacht werden können. Zum anderen bedeutet Individualisierung die diagnosebasierte Gestaltung individueller Lernwege und Lernstandsprüfungen. Individualisierbar sind aber auch die Bedingungsfelder des Lernens: bauliche Ausstattungssimulationen, Raumdarstellungen, Lichtverhältnisse, Wegführungen etc.
  11. Eine technikgestützte Diagnose individueller Lernvoraussetzungen, -eigenarten und -ergebnisse ist die Grundlage für die Entwicklung individueller Lernszenarien.
  12. Schule in virtueller Realität lebt von der Beteiligung ihrer Nutzerinnen und Nutzer: Partizipation der Lehrenden und Lernenden an der Gestaltung der Lernräume ist elementarer Bestandteil dieser Schule, weil damit Eigenverantwortung gefördert und Wirksamkeitserfahrung ermöglicht wird.
  13. Lehrende und Lernende haben grundsätzlich Souveränität über ihr Agieren innerhalb der VR-Erfahrungs- und Arbeitsräume.
  14. Die Schule in virtueller Realität ist eine soziale Schule. Lehrende haben die Möglichkeit, ihr berufliches Selbstverständnis zu wandeln, sich von Wissensvermittlern zu Lernbegleitern zu entwickeln. Sie verstehen sich als Experten (fachlich), Moderatoren (didaktisch), Mentoren (sozial) und Weiterlernende (individuell). Lehrende werden von der im digitalen Zeitalter irrigen Fiktion befreit, wonach sie über Themen und ihre Medien exklusiv verfügen, sie vor allem zu verteilen und zugänglich zu machen hätten. Lernende sind in der Schule in virtueller Realität (Mit-)Gestalter der Themen und Arbeitsaufgaben, ihrer Sozialbeziehungen und ihres raum-zeitlichen Umfelds. Schule in virtueller Realität wird permanent konstruktiv hinterfragt und weiterentwickelt. Neue fachliche Erkenntnisse werden als Updates implementiert.

Zusammengefasst sollte Schule in virtueller Realität also eine hochdifferenzierte und individualisierte Förderung in neuen Raum-Zeit-Verhältnissen ermöglichen – auf individuellen Lernwegen, unter Entwicklung von Kompetenzen, auf dem Weg zu dynamischem Wissen.
Die Grundlagen der Konzeption und Umsetzung von Schule in virtueller Realität können nicht den Konjunkturen unreflektierter Tech-Hypes folgen. Diese Schule ist eine Reaktion auf Veränderungsnotwendigkeiten und basiert auf Erkenntnissen in allen zugehörigen Fachbereichen. Fragen aus unterschiedlichen Disziplinen müssen bearbeitet und Antworten zusammengeführt werden, um Schule vor dem Hintergrund digitaler Transformation fundamental neu denken zu können.

Zitiervorschlag: Florian Sochatzy und Marcus Ventzke (Hrsg.), Bildung digital gestalten, Eichstätt 2020, Kap. Ausblick auf Bildung und Schule von morgen: Schule in Virtual Reality https://bildung-digital-gestalten.institut-fuer-digitales-lernen.de/inhalt/schule-in-virtueller-realität 23.10.2020. content_copy kopiert!

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