Das mBook-Projekt war von Anfang an als Transformations- und Entwicklungsprojekt konzipiert. Die zentrale Frage war hierbei, inwiefern Lehrende und Lernende beim Erwerb von Kompetenzen unterstützt werden können: Wie kann ein (digitales) Lernmittel Prozesse fördern, die es ermöglichen, kritisch, kommunikativ, kollaborativ und kreativ mit den Inhalten eines Faches umzugehen? Das mBook setzt somit auf UnterrichtsEvolution, nicht auf System-Revolution.
Erfahrungsgemäß entwickelt Digitalität ab einem gewissen Punkt die Kraft fundamentaler Disruption.1 Und so ist es auch nie zu früh, sich über die revolutionäre Phase Gedanken zu machen. Was kommt nach einem multimedialen Schulbuch?
Gegenwärtig haben einige neue – wenngleich noch in der Marktreifung befindliche – Technologien das Potenzial, Bildungsprozesse nachhaltig zu verändern, beispielsweise Augmented Reality (AR), Virtual Reality (VR) und datengestützte Assistenzsyteme (Machine Learning).
Die folgenden Ausführungen widmen sich den Potenzialen von VR im schulischen Bereich: Liegt in VR gar das Potenzial für eine Neu-Konzeption von Schule?
Wozu haben wir heute eigentlich noch Schulen? Und welche Funktion geben wir ihnen? Diese Fragen sind angesichts der permanenten Debatte über die fundamentalen Probleme staatlicher Schulen, die technischen Wandlungsprozesse unserer Gegenwart und die immer stärkere Infragestellung des traditionellen Bildungsvertrags keineswegs unangemessen. Nicht selten erscheinen Schulen der Gegenwart wie Einrichtungen einer anderen Epoche. Und diese Beobachtung ist nicht falsch. Das Bildungskasernenhafte des 19. Jahrhunderts ist heute zwar de jure obsolet, die aus der wilhelminischen Zeit überkommenen Schulbauten mit ihren langen Gängen, ihren Zimmerfluchten, Stundensignalen und Pausenaufsichten haben indes noch immer Einfluss auf die alltägliche Organisation des Lernens und – viel bedenklicher – auf die öffentlichen Erwartungen an Schule.2
Das Schulverständnis der Gegenwart definiert sich in Deutschland sehr oft noch immer entlang der simplen Assoziation Schule = Bauwerk. Das klingt zunächst eingängig, muss aber keineswegs so sein. Schule sollte in Zukunft verstärkt (wieder) als Organismus, Kommunikationsnetz und intentionaler Zusammenhang gedacht werden. Schulen müssen nicht baulich isoliert, an bestimmte Orte fixiert sowie als Teil einer regionalen und überregionalen Verwaltung betrieben werden. Die Abhängigkeiten vor allem staatlicher Schulen von übergeordneten bürokratischen Prozessen und politischen Erwägungen binden sie oftmals in sachfremde Kontexte ein, die ihre innere wie äußere Existenz beeinflussen, nicht selten sogar beeinträchtigen: Viele staatliche Schulen in Deutschland sind beispielsweise gegenwärtig personell unterbesetzt, baulich marode und erschreckend schlecht ausgestattet. Gegen Bildungsungerechtigkeit sind sie weitgehend machtlos, und der Kern ihrer Tätigkeit liegt allzu oft im lehrergesteuerten Auswendiglernen von Informationspartikeln.3
Das alles zeigt: Die zeitlichen, räumlichen, organisatorischen, personellen und nicht zuletzt inhaltlich-didaktischen Strukturen des gegenwärtigen Bildungssystems sind für moderne Bildungsziele überwiegend ungeeignet, da sie immer noch darauf ausgerichtet sind, dass alle Lernenden in vorgegebenen Zeiteinheiten dasselbe memorieren und daraufhin nach einheitlichen Maßstäben für die korrekte Wiedergabe statischer Wissenspartikel beurteilt und letztlich selektiert werden. Noch immer prägt nicht das Begreifen, Erfahren, Verstehen, Erarbeiten und Abstrahieren die Lernbiografie der Schülerinnen und Schüler, sondern das Auswendiglernen eines bestehenden Fakten- und Wissenskanons.
Im Zeitalter digitaler Transformation stehen Gesellschaften jedoch vor völlig anderen Herausforderungen, und folglich muss auch Bildung unter diesen veränderten Vorzeichen gedacht werden.
In der digitalen Welt benötigen wir:
Wenn in der Gegenwart Bildung als die wichtigste Ressource für die Entwicklung eines modernen Gemeinwesens beschrieben wird, so ist damit die bestmögliche individuelle Entfaltung menschlicher Potenziale gemeint, nicht die Implementierung und Abrufbarkeit möglichst ähnlicher oder gar gleicher Fertigkeiten bestimmter Gruppen.
Moderne Bildung richtet sich auf:
Moderne Bildung erfordert daher die Entwicklung von variablen Problemlösungskompetenzen möglichst vieler Lernerinnen und Lerner, die sich als vernetzte Kreative verstehen, und sie fördert deshalb die Fähigkeit jedes Einzelnen,
Die technische Entwicklung im Bereich der virtuellen Realität ist bereits heute so weit gediehen, dass immersive Erfahrungen möglich sind. Sinkende Kosten für Hardware-Ausstattungen und eine stetig wachsende Auswahl an verfügbaren VR-Settings stoßen derzeit die Tür zu einem Massenmarkt für virtuelle Realität weit auf. Virtual Reality verlässt damit die Sphäre wissenschaftlicher Testlabore und medialer Modellprojekte. Sie wird in Kürze zur Alltagskultur gehören, sie möglicherweise sogar entscheidend prägen. Folglich erhebt sich die Frage, inwieweit VR auch elementarer Bestandteil von Bildungsvorgängen werden wird. Angesichts der rasanten technischen Entwicklung lassen sich nun Lernräume denken und umsetzen, die zunächst schulergänzend und in einem nächsten Schritt teilweise schulersetzend sein könnten. Tech-Unternehmen arbeiten sehr wahrscheinlich an Möglichkeiten, den Bildungsmarkt mithilfe von VR-Technik umzuwälzen – und das natürlich in einem globalen Maßstab.4 Komplette VR-Schulen, die von diesen Unternehmen bedürfnisgerecht entwickelt und betrieben werden, sind längst keine Utopie (oder Dystopie, je nach Standpunkt) mehr. Aus diesem Grund ist es heute zwingend erforderlich, sich auf eine derartige Schule in virtueller Realität auf theoretischer Ebene, aber auch auf Grundlage praktisch-empirischer Erfahrungen, vorzubereiten.
Die folgenden Überlegungen entwickeln einige Kriterien für eine Schule in der virtuellen Realität. Eine potenziell derartig disruptive Konzeption sollte nicht allein gewinnorientierten Wirtschaftsunternehmen überlassen bleiben. Wir müssen daher in Forschung und (Unterrichts-)Praxis Erkenntnisse gewinnen, um die Entwicklung in diesem Bereich mitgestalten zu können.
Zunächst: Schule in virtueller Realität kann eine Bildungsinfrastruktur sein, die sich in unterschiedliche Lernräume gliedert, die, unabhängig von materiell-räumlichen Gegebenheiten, ein Erkenntnisumfeld für Lernende und ein Lehrumfeld für Unterrichtende bereitstellt.
Im Zusammenhang mit anderen Kriterien, die Schulentwicklung gegenwärtig bestimmen oder bestimmen sollten – von der Kompetenzorientierung über die Digitalisierung bis zur Globalisierung – lassen sich mit Blick auf die Schule in virtueller Realität Kriterien formulieren, die zwar lediglich einen vorläufigen Erkenntnisstand repräsentieren, jedoch eingebettet sind in grundlegende gesellschaftliche und ökonomische Prägungen der Gegenwart (Schlagwort „VUCA-Welt“).5 Diese Kriterien müssen sich daher jederzeit einer theoretischen, empirischen und praktischen Kritik stellen.
Zusammengefasst sollte Schule in virtueller Realität also eine hochdifferenzierte und individualisierte Förderung in neuen Raum-Zeit-Verhältnissen ermöglichen – auf individuellen Lernwegen, unter Entwicklung von Kompetenzen, auf dem Weg zu dynamischem Wissen.
Die Grundlagen der Konzeption und Umsetzung von Schule in virtueller Realität können nicht den Konjunkturen unreflektierter Tech-Hypes folgen. Diese Schule ist eine Reaktion auf Veränderungsnotwendigkeiten und basiert auf Erkenntnissen in allen zugehörigen Fachbereichen. Fragen aus unterschiedlichen Disziplinen müssen bearbeitet und Antworten zusammengeführt werden, um Schule vor dem Hintergrund digitaler Transformation fundamental neu denken zu können.
Zitiervorschlag: Florian Sochatzy und Marcus Ventzke (Hrsg.), Bildung digital gestalten, Eichstätt 2020, Kap. Ausblick auf Bildung und Schule von morgen: Schule in Virtual Reality https://bildung-digital-gestalten.institut-fuer-digitales-lernen.de/inhalt/schule-in-virtueller-realität 23.10.2020. content_copy kopiert!
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