Lange Zeit wurde digitalen Schulbüchern nachgesagt, dass sie nicht mehr als digitalisierte PDFs und wenig innovativ für das digitale Lehren und Lernen seien.1 Mit diesen Behauptungen ist dabei von Seiten der Bildungspolitik und Bildungspraxis der Wunsch verknüpft, die Potenziale digitaler Bildungsmedien in Schulen besser auszuschöpfen. Aktuell werden zunehmend dynamische, interaktive, editierbare digitale Schulbücher in Deutschland entwickelt, die unterschiedlichste Prioritäten umsetzen bzw. diverse Nutzungsmöglichkeiten anbieten. Es gibt allerdings nur sehr begrenzt wissenschaftliche Begleitforschung zur Verwendung von digitalen Schulbüchern. Die vorhandenen Studien messen für gewöhnlich mit (quasi-)experimentellen Designs die Veränderung des Lernstands durch den Einsatz digitaler Schulbücher in naturwissenschaftlichen Fächern. Qualitative Forschungsdesigns sind weniger vorhanden; und die Unterrichtssituation in gesellschaftswissenschaftlichen Fächern ist bisher nur unzureichend beschrieben.2
Vor diesem Hintergrund berichtet der vorliegende Beitrag über ausgewählte Ergebnisse einer Studie zu den Potenzialen digitaler Schulbücher im Geschichtsunterricht im Vergleich zu analogen Lehrwerken. Die multi-methodische, qualitativ orientierte Begleitforschung untersucht die Verwendung des mBooks Geschichte im Schulalltag. Das mBook Geschichte dient hier als exemplarisches Beispiel eines ‚born digital‘-Schulbuchs, d. h., es wurde als digitales Medium konzipiert und entwickelt, im Unterschied zu weiteren aktuellen digitalen Schulbüchern, die primär ins Digitale übertragene Versionen eines schon vorhandenen gedruckten Schulbuchs sind (z. B. als statisches PDF oder mit interaktiven Elementen angereichert).
Der Beitrag skizziert zentrale Ergebnisse der Begleitforschung und wendet sich der Frage zu: Was lässt sich aus der Perspektive der Schülerinnen und Schüler zu individuell wahrgenommenem Lernerfolg sagen? Zentral ist hierbei die Formulierung „wahrgenommener Lernerfolg“. Erfolgreiches Lernen lässt sich nicht ausschließlich in Form von Noten oder Testergebnisverbesserungen quantifizieren. In diesem Projekt verstehen wir Lernerfolg als das Zusammenspiel aus diversen individuellen und situativen Faktoren. Ziel ist es, durch vertiefende Fallbeispiele und ein genaues ‚Hinhören‘ die Sichtweisen der Schülerinnen und Schüler – in deren eigenen Worten – systematisch herauszuarbeiten. Als analytische Linsen für die Auswertung dienen uns etablierte Lerntheorien und die damit verknüpften und jeweils unterschiedlichen ‚Lernpraktiken‘, d. h. typisierte, routinisierte Aktivitäten, die zum Lernen unternommen werden. Diese Lernpraktiken wiederum können sich in unterschiedlichen Lernszenarien besser oder auch schlechter entfalten.
Nach einer Skizzierung des Forschungsdesigns im ersten Teil werden die Ergebnisse im zweiten Teil anhand von vier lerntheoretischen Ansätzen präsentiert. Der dritte Teil schließt den Beitrag mit einer Zusammenführung der Studienergebnisse und der Anregung, die Schülerinnen und Schüler als primäre Nutzungsgruppe von digitalen Schulbüchern zu betrachten.
Die Datenerhebung der Gesamtstudie wurde als multi-methodisches Design konzipiert, bei dem wir Unterrichtsbeobachtungen mit Interviews der Schulleitungen, Lehrenden sowie Gruppendiskussionen mit Schülerinnen und Schülern zusammenführen.3 Begleitet wurde Geschichtsunterricht in Klassen der Sekundarstufe in einem Gymnasium sowie einer Realschule in einem Bundesland. Beide Schulen haben ein tendenziell medienaffines Kollegium sowie eine technisch aufgeschlossene Schulleitung. Zudem verfügen beide Schulen über ein Medienkonzept und die technische Infrastruktur, um mit digitalen Büchern arbeiten zu können.
Die Unterrichtsbeobachtungen lieferten dichte Beschreibungen von Praktiken im Umgang mit dem mBook Geschichte und weiteren digitalen Medien. Diese wurden in Form von Protokollen und Feldnotizen festgehalten. Die Interviews mit Schulleitungen und Lehrenden dienten der Reflexion der eigenen Praktiken der mBook-Verwendung. Von uns beobachtete Unterrichtssituationen wurden mit den Interviewten besprochen, um das Medienhandeln im Umgang mit den mBooks zu kontextualisieren. Zudem wurden mit Interviewten wahrgenommene Chancen und Herausforderungen sowie Wünsche an die Produktion digitaler Schulbücher diskutiert. Die Interviews mit den Lehrenden und die Gruppendiskussionen mit den Schülerinnen und Schülern erfolgten leitfadengestützt. Die Schülerinnen und Schüler wurden zudem gebeten, eine Sortierübung zu wahrgenommenen Kompetenzen durchzuführen, wodurch die Gespräche untereinander persönliche Erfahrungen und Eindrücke zur mBook-Verwendung hervorbrachten.
Als bildungspraktischer Rahmen der Studie fungieren unter anderem die Strategien und Beschlüsse der KMK zu „Bildung in der Digitalen Welt“ und zu „historischen Kompetenzen“.4 Für die theoretische Fundierung knüpft die Studie an die entwicklungsorientierte Forschung, wie sie Gabi Reinmann und Werner Sesnik beschreiben, an.5 Wir konzipieren somit das theoretische und methodische Vorgehen als „lernende Forschung“, indem wir Lehren und Lernen mit digitalen Schulbüchern im Schulalltag als Prozess beobachten und im Hinblick auf Veränderungspotenziale analysieren.6
Bei der Betrachtung des individuell wahrgenommenen Lernerfolgs aus der Perspektive der Schülerinnen und Schüler interessieren uns konkret die Fragen: Was berichten die Schülerinnen und Schüler darüber, wie ihnen das mBook Geschichte beim Lernen hilft? Wie beschreiben sie ihre Motivation zum Lernen? Was steigert ihr Bedürfnis nach Auseinandersetzung mit fachlichen Themen?
Mit Blick auf die Unterrichtsbeobachtungen finden sich unterschiedliche Lernpraktiken, die nicht separat nebeneinanderstehen, sondern miteinander verwoben sind, aufeinander aufbauen bzw. sich im Unterrichtsalltag ergänzen. Diese Lernpraktiken spiegeln sich insbesondere in vier lerntheoretischen Ansätzen: 1. der behavioristische Ansatz (u. a. Skinner), 2. der kognitionspsychologische Ansatz (u. a. Bandura), 3. der konstruktivistische Ansatz (u. a. Piaget) und 4. der soziokulturelle Ansatz (u. a. Wygotski), auf den sich Arbeiten zu vernetztem Lernen (u. a. Ito zu connected learning) beziehen.7 Mit Blick auf die Feldforschungsdaten skizzieren wir in diesem Abschnitt die vier lerntheoretischen Ansätze und reflektieren diese in Zusammenhang mit den Aussagen der Schülerinnen und Schüler zu Lernen und Lernunterstützung im Unterricht.
Einige der Schülerinnen und Schüler der Studie sind besonders geübt in Lernpraktiken entlang eines Input-Belohnung-Schemas. Dies spiegelt sich beispielsweise in Unterrichtssituationen zu Grundwissensabfragen. So beginnt eine der von uns beobachteten Lehrpersonen ihre Stunde für gewöhnlich mit einem Test, bei dem ein Schüler oder eine Schülerin sechs zufällig ausgewählte Fachbegriffe wiedergeben muss. Zum Teil zeigt sich der behavioristische Lernansatz aber auch in den Wünschen der Schülerinnen und Schüler nach stichwortartigen Merkkästen und Infokästen im mBook Geschichte, die nach Möglichkeit eine klare Auswendiglernstruktur aufweisen sollen. Hier beispielhaft die Aussage einer Schülerin:
„Im mBook hat man Quellentexte und einfach normale Texte, was schon mal nicht verkehrt ist. Aber auch da könnte man eine Zusammenfassung am Ende [der Seite gebrauchen]. Man hat dann diesen Beitrag und am Ende ist da einfach nochmal so ein roter Kasten: Merke. Und da ist dann alles nochmal kurz und knapp zusammengefasst: Im Jahr blablabla war das und das und in Jahr blablabla war das und das. Fertig. Ich glaube, das würde – egal ob digital oder analog – den Schülern total viel bringen. […] Aber in Werken, wo wir so zwanzig Buchseiten lernen müssen für eine Schulaufgabe und ich hock da dann drei Wochen vorher und denk mir: Scheiße, ich darf hier zwanzig Seiten zusammenfassen. Wäre also generell für jedes Schulbuch praktischer: Zusammenfassung! Schüler können es aus dem Buch abschreiben und lernen oder aus dem Buch direkt lernen, ohne ewig überlegen zu müssen.“
Als persönlichen Erfolg verstehen die Schülerinnen und Schüler Situationen, in denen sie durch das Auswendiglernen von Fakten eine gute Note bekommen. Für die Schülerinnen und Schüler sind entsprechende Tools in einem digitalen Schulbuch somit besonders dann sinnvoll, wenn ihnen das Medium beim Lernen von Sachinformationen und Fakten hilft. Auch für die Lehrkraft bleibt die Informationsvermittlung und das Lernen von Inhalten zentral, da die Verfügbarkeit von Faktenwissen in ihrer Einschätzung zwingend notwendig sei, um Transferleistungen zu erbringen. „Wie soll das im inhaltsleeren Raum gehen?“, fragt eine Lehrperson und ergänzt: „Also wie sollen sie denn über irgendwas diskutieren, wenn ihnen die Inhalte fehlen?“
Der überwiegende Teil der von uns beobachteten Unterrichtssituationen lässt sich dem Lernen als Informationsverarbeitung oder einer Vorstellung von Lernen am Modell, das durch Übung und Wiederholung gefestigt wird, zuordnen. So zeigt sich der kognitionspsychologische Ansatz insbesondere in den Stunden, in denen Instruktion bzw. Erlesen von Informationen aus dem Buch mit Üben und Anwenden des Gelesenen kombiniert wird. Unterstützung durch das mBook Geschichte erleben die Schülerinnen und Schüler insbesondere durch die Strukturierung der jeweiligen Texte, Bilder bzw. Aufgaben und die Option, weitere Informationen aus anderer Perspektive (andere Textart, anderer Autor oder Autorin etc.) zu erlesen. Ein Schüler und seine Mitschülerin diskutierten z. B. die Funktion von Visualisierungen in Kombination mit Beschriftungen und deren Funktion für das eigene (bessere) Verstehen:
Schüler: „Naja, im Schulbuch, sag ich mal, da hast du dann unter dem Bild drunter so die Nummerierungen, da hast du die Beschriftungen gleich mit im Bild und erkennst es, was es ist, oder wenn ein Pfeil drin ist, erkennst du ungefähr, wo es sein könnte, aber nicht so genau. Also ich finde das mBook schon viel besser auch mit den Beschriftungen.“
Schülerin: „Also ich finde es gut – das liegt ja jetzt nicht direkt am mBook, aber wenn man ein Tablet oder iPad hat, du kannst halt auch ranzoomen und dir alles nochmal genauer anschauen. Das geht halt im Buch nicht. Du kannst es nur näher an dich ranholen. Und ich finde bei Bildern mit kleinen Details, wo man drauf achten sollte und die vielleicht noch genauer in die Situation hineinführen, ist das praktischer, dass man einmal so die Finger auseinandermachen kann und es dann einfach näher und genauer sehen kann.“
Eine andere Schülerin nahm im Interview Bezug darauf, dass das Lernen und Verstehen von Geschichtsbegriffen ähnlich dem Vokabeltraining im Sprachunterricht sei. Das Lernen von Begriffen ist für sie die (manchmal auch als langweilig empfundene) Grundlage, um dann später auch „spannendere“ Aufgaben erfüllen zu können:
„Weil halt eigentlich normalerweise, wenn man das, den Anfang, das Langweilige gemacht hat, dann wird es eigentlich auch interessanter. Also wenn du in Englisch die ersten Vokabeln lernst, dann bringt es nichts, aber wenn du weiterkommst, dann kannst du [gestikuliert mit den Armen, zeigt etwas Großes] – Ja!“
Einige der Lehrenden sehen insbesondere in der Verwendung digitaler Medien für adaptives Lernen großes Potenzial. Sie wünschen sich ein digitales Buch bzw. ‚Software‘, mit der Lehrende die Schülerinnen und Schüler analysieren und bei ihrem jeweiligen Lernstand abholen können. Die Erfassung des Lernstandes und der Lernstandsveränderung (Verbesserung oder Verschlechterung) in Kombination mit einem Feedback an Lehrende und Lernende unterstützt insbesondere die Lehrenden, die Wert auf Übungs- und Wiederholungsroutinen im Unterricht legen und die Lernen als Mischung aus Grundwissenstraining (Vokabeln, Fachbegriffe, Formeln etc.) sowie Transferleistung (erklären, interpretieren, reflektieren etc.) ansehen.
Eher selten konnten wir während der Studie Lernen als individuelle Konstruktion beobachten. Indizien, dass einigen Schülerinnen und Schülern der individuelle Kompetenzerwerb durch das mBook Geschichte leichter als mit einem gedruckten Buch fällt, lassen sich durch Aussagen zu der einfacheren Schreibweise im mBook oder zu verständlichen Aufgaben, bei denen du „viel eher [weißt], was du da in der Aufgabe tun sollst“ (Schülerin), identifizieren.
Interviewerin: „Dieses ‚etwas über die Welt verstehen‘ – ist das einfacher, wenn ich da ein gedrucktes Geschichtsbuch habe oder wenn ich so ein digitales Buch – so was wie das mBook – oder ein anderes digitales Medium – das Internet oder eine App – nutze?“
Schüler: „Digital!“
Interviewerin: „Warum?“
Schüler: „Also wie gesagt, das ist halt einfach viel einfacher geschrieben.“
Interviewerin: „Weil es einfacher geschrieben ist, kannst du einfacher etwas über die Welt verstehen?“
Schüler: „Ja, also ich hab das normale Schulbuch jetzt, ich muss mir den Text zwanzigmal durchlesen, bis ich das verstanden habe. Und beim mBook lese ich mir das einmal durch und ich kapier es schon.“
Weitere Hinweise darauf, dass Lernen von den Schülerinnen und Schülern implizit auch als Konstruktion oder als ‚Aha-Moment‘ erlebt wird, zeigen sich in Gesprächsauszügen wie dem folgenden:
Schülerin: „Manchmal hat man ganz zu Anfang so das Gefühl, dass man überhaupt nichts checkt und dann irgendwann mal kommt dann dieser Moment, dieser AhaMoment, wo man es dann doch kapiert.“
Interviewerin: „Wie sieht denn so ein Aha-Moment aus?“
Schülerin: „Keine Ahnung. Man hat diesen Text vor sich und liest den seit fünfzehn Minuten und sollte verstehen, was da drinsteht, weil das irgendwie für die [Prüfung] relevant ist oder so und dann liest man das und denkt sich so, das kann doch keinen Sinn machen. Und dann sieht man das eine Wort, das man vergessen hat und dann denkt man so, oh ja, ok, das macht Sinn. Oder man versteht was nicht, wenn es der Lehrer sagt; dann liest man sich den Text durch und versteht es doch. Oder andersherum.“
Zudem spiegeln sich in einigen der Auszüge aus den Interviews mit den Lehrenden Vorstellungen dazu, wie Lernen jenseits von behavioristischen oder kognitionspsychologischen Ansätzen als Konstruktion bzw. verknüpfte Transferleistung gestaltet und gefördert werden kann. So wünschte sich ein Lehrer mehr Zeit und Raum für „Meta-Kognition“ bzw. die Gelegenheit für die Schülerinnen und Schüler, über den eigenen Lernerfolg nachzudenken. Ein Auszug aus einem Gespräch mit einer Schülerin ergänzt diese Perspektive:
Schülerin: „Also etwas über sich selbst verstehen, dazu hilft das Buch eigentlich gar nicht. Nee!“
Interviewerin: „Also weder ein gedrucktes Schulbuch noch ein digitales mBook?“
Schülerin: „Nee! Nee!“
Interviewerin: „Was hilft euch denn, etwas über euch selbst zu verstehen?“
Schülerin: [lacht] „Über sich selbst nachdenken vielleicht?“
Aus Perspektive der Schülerinnen und Schüler laden Bildungsmedien bisher eher wenig zur Reflexion über die eigene Person und den eigenen Lernerfolg ein. Dafür sei bislang wenig Raum im Unterrichtsgeschehen vorgesehen. Ein digitales Schulbuch könnte hier entsprechend Anregungen und Arbeitsaufträge enthalten, die das bewusste Nachdenken ‚über sich selbst‘ oder ‚über gewonnene Erkenntnisse‘ evoziert und Raum schafft für kreativen, konstruktiven ‚Leerraum‘.
Vernetztes Lernen (connected learning) fußt auf soziokulturellen Lerntheorien und blickt auf Lernen inner- und außerhalb der Schule. Lernen aus soziokultureller Perspektive ist eingebettet in Alltagspraktiken und unterstützende Beziehungen und geht von der Annahme aus, dass es unterschiedliche Lernpfade, Wissensarten und Expertisen gibt. Digitale Medien sind für die Schülerinnen und Schüler Teil der Lebenswelt und spielen eine große Rolle im Alltag jenseits der Schule. Dennoch wünschen sich einige der von uns befragten Schülerinnen und Schüler eine stärkere Verknüpfung, weil sie hier Motivationspotenzial für sich sehen. Eine Schülerin äußert sich wie folgt:
„Wir haben in unserem Alter einfach einen Bezug zu Medien. Fast jeder in unserem Alter hat ein Handy oder Smartphone, wo man in seiner Freizeit auch gern dran ist … Und wenn ich in der Schule genau wieder dieses gleiche Medium habe, dann hab ich einfach einen ganz anderen Bezug dazu. Und freue mich drauf, damit zu arbeiten. Das ist beim Schulbuch einfach nicht so. Einfach andere Gedankengänge.“
Dass das Lernen grundlegend sozial ist und sich durch das gemeinsame Lösen von Problemen bzw. durch die Verwendung von Symbolen und Werkzeugen entwickelt, beobachteten wir vor allem in Projektlernsituationen im Unterricht. Hier kamen weniger das mBook Geschichte, sondern eher weitere digitale Angebote (Cloud-Lösung des Bundeslandes, Online-Recherchen in Repositorien, Erklärvideos, Präsentations- und Audioschnittsoftware etc.) zum Einsatz, um Lernumgebungen und Lernangebote zu schaffen, in denen die Schülerinnen und Schüler ein von der Lehrperson gestelltes Problem durch die aktive, kooperative, gemeinschaftliche Gestaltung lösen sollten, beispielsweise die Produktion eines Audiobeitrages. Einige Aussagen, bezogen auf soziales Lernen mit dem mBook, finden sich exemplarisch in den Überlegungen der Schülerinnen und Schüler zu den Autorenvideos. Eine Schülerin sagte zu den Autorenvideos am Anfang der Kapitel im mBook Geschichte:
„Aber wenn man dann Darstellungen von irgendwelchen Leuten [hier: vom Kapitelautor], die mehr Erfahrung haben als der Lehrer, bekommt, dann interessiert man sich auch viel mehr dafür.“
Eine weitere Schülerin hob die aktive Einbeziehung der Lernenden im Unterrichtsgeschehen hervor:
„Wenn man Schüler auch mit einbringt in den Unterricht, dann ist es auch für mich, um ehrlich zu sein, auch ein bisschen anschaulicher als eben nur Texte zu lesen und zu beantworten. Genauso wie in Physik, da werden wir ja auch eingebunden und so was kann man sich dann, finde ich, besser merken.“
Hier zeigt sich das soziokulturelle Lernen in zwei klassischen Weisen: Zum einen im gesteigerten Interesse und Kompetenzerwerb – erwachsen aus dem Input von einer erfahreneren Person (scaffolding). Zum anderen im peer learning – dem Austausch und die Zusammenarbeit in der Klassengemeinschaft. Beide Aspekte verweisen darauf, dass Lernen durch Faktoren jenseits des Klassenraums mitgestaltet und bedingt wird.
In diesem Beitrag wurden erste Ergebnisse einer Begleitforschung zur Verwendung des mBooks Geschichte in Schulen präsentiert. Der Beitrag antwortet auf die Frage: Was lässt sich aus Perspektive der Schülerinnen und Schüler zu individuell wahrgenommenem Lernerfolg sagen? Beispiele aus Beobachtungen und Interviews verdeutlichen die Rolle von vier zentralen Lerntheorien, hinter denen sich diverse Lernpraktiken verbergen, die wiederum durch mBooks in unterschiedlicher Weise gefördert werden: der behavioristische Ansatz, der kognitionspsychologische Ansatz, der konstruktivistische Ansatz und der soziokulturelle Ansatz bzw. das vernetzte Lernen.
Im ausführlicheren Projektbericht wird dieser wahrgenommene Lernerfolg darüber hinaus zu vier Kontextfaktoren in Bezug gesetzt, die jenseits des mBooks Geschichte das Lehren und Lernen in der Unterrichtspraxis rahmen.8 Dies ist erstens die Rolle der Lehrperson, z. B. als Moderator, der Freiräume zulässt, zweitens die Rolle der Schülerinnen und Schüler – wobei sich einige einen stärker schülerzentrierten Unterricht und andere einen eher lehrerzentrierten Unterricht wünschen –, drittens sind es eingeübte Unterrichtsroutinen und die gesellschaftlichen Erwartungen daran, wie „guter Unterricht“ gestaltet sein soll, und viertens sozio-ökonomische institutionelle Rahmungen, u. a. die traditionelle Orientierung der Schulbuchentwicklung an Lehrenden als zentrale Nutzerinnen und Nutzer.
Auf dieser Tradition aufbauend, werden digitale Schulbücher und weitere Bildungsmedien immer noch weitgehend für die Erwartungen und Unterrichtsbedarfe der Lehrenden produziert. Die Ergebnisse dieser Begleitforschung rücken die Perspektive und die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler stärker in den Fokus und regen an, diese als die primären Nutzerinnen und Nutzer zu betrachten.
Die Ergebnisse ergänzen zudem die bisherigen quantitativ, auf Lernstandsmessung fokussierten Forschungen um die Einsicht, dass zum einen wahrgenommener Lernerfolg eine individuelle Wahrnehmung und Bewertung unterschiedlicher Faktoren darstellt und dass zum anderen die Schülerinnen und Schüler – je nach bevorzugten Lernpraktiken – mit digitalen Schulbüchern besser oder schlechter beim Lernen unterstützt werden. So liegen beispielsweise die Besonderheiten des mBooks Geschichte in seiner medialen Verfasstheit. Als ‚born digital‘, browserbasiertes Buch konzipiert, das das „Schulbuch“ vom Doppelseitenprinzip löst, nutzt es die Möglichkeiten eines online verfügbaren, vernetzten Mediums. Um den Erwartungen von Bildungspraxis und Bildungspolitik an das Ausschöpfen der Potenziale digitaler Bildungsmedien zu begegnen, braucht es somit perspektivisch ‚born digital‘-Schulbücher, die auf die Vielfalt der Lernsituationen und der Lernenden mit einer Vielfältigkeit digitaler Angebote antworten und dabei die Diversität von Lehr- und Lernszenarien sowie unterschiedliche Lernpraktiken bei der Entfaltung unterstützen.
Zitiervorschlag: Florian Sochatzy und Marcus Ventzke (Hrsg.), Bildung digital gestalten, Eichstätt 2020, Kap. ‚Born digital‘-Schulbücher in der empirischen Forschung – Fragen, Forschungsdesign, erste Erkenntnisse https://bildung-digital-gestalten.institut-fuer-digitales-lernen.de/inhalt/empirische-forschung 23.10.2020. content_copy kopiert!
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