Wenn man sich mit der Entstehung des mBooks für das Fach Geschichte befasst, wird schnell klar: Ein multimediales, digitales Schulbuch benötigt bei der Erstellung viel Aufmerksamkeit und Enthusiasmus, und es ist zudem nie richtig fertig. Da drängen sich natürlich Fragen auf: Lohnt sich das wirklich? Warum diese Mehrarbeit leisten? Was können Lehrende und Lernende mit diesem digitalen Schulbuch überhaupt machen? Und im Gegenzug: Was macht dieses digitale Schulbuch mit Lehrenden, Lernenden, Lehrmittelproduzenten?
Geschichte ist immer auch ein emotionales Fach und digitale Möglichkeiten wie Audios, Videos oder Bildergalerien eröffnen ganz neue Zugänge zum Stoff.1 Mit Blick auf das mBook und seine vielfältigen medialen Möglichkeiten und Angebote kann man sagen: Ja, die Arbeit lohnt sich. Der nachfolgende Streifzug durch ein Kapitel des mBooks Geschichte soll anhand von Beispielen verdeutlichen, was dieses Buch an medialer Erweiterung zu bieten hat und wie diese Erweiterungen konzipiert und implementiert wurden. Die Kombination von Audios und Bildern steht dabei im Vordergrund.
Dieses Kapitel ist deswegen für einen Blick auf die medialen Chancen des mBooks Geschichte gut geeignet, weil Lernende hier gewissermaßen auf beiden Seiten des Unterrichts stehen: Das Kapitel behandelt inhaltlich die Rolle der Kinder zur Zeit des Ersten Weltkrieges und spricht damit die heutigen, gleichaltrigen Lernenden an, die sich im Unterricht mit dem Thema „Kinder im Weltkrieg“ befassen. Der sich an Lehrende wendende Unterrichtskasten „Die doppelte Zielgruppe Kind“ zu Beginn des Kapitels erläutert diese Situation.
Das Kapitel behandelt zunächst die Alltagssituation der Kinder zu dieser Zeit, im Anschluss daran Kinder als Adressaten von Kriegspropaganda. Dies geschieht etwa anhand der Auseinandersetzung mit der Quelle 4, die den Text zum Lied „Hurra Germania“ enthält.2 Das Lied ist eine Hymne auf das Heimatland, seine Kraft und seine Vorzüge. Es wurde von Kindern beispielsweise zu Elternabenden für ihre Eltern gesungen – ein perfider Schachzug, um das Interesse der Eltern an ihren Kindern mit der (Kriegs-)Propaganda in Einklang zu bringen. Was damals bei vielen ,national gestimmten‘ Lehrern und Eltern auf Zustimmung stoßen konnte, erfüllt heutige Lernende sicher oftmals mindestens mit Verwunderung.
Dank der multimedialen Möglichkeiten des mBooks Geschichte können Lernende den Versuch machen, den Nutzungssituationen eines solchen Liedes ansatzweise nachzugehen, etwa dadurch, dass sie es gesungen rezipieren: ein Klick auf „Play“ – und schon singt ein heutiger Kinderchor das Lied. Was kann man aus dieser medialen Inszenierung entnehmen?
Folglich lassen sich Fragen an die Quelle gewinnen:
Unter Heranziehung weiteren Materials, mit methodischer Arbeit und durch unterrichtliche Kommunikation besteht somit für heutige Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit zu erkennen, dass Kinder und Jugendliche damals für die Ideologie von Erwachsenen missbraucht wurden. Sie können sich erarbeiten, dass Kinder und Jugendliche während des Weltkrieges in den Schulen nicht dazu angehalten wurden, über den Sinn dieses Liedes (und anderer nationalistischer Lieder) und den Sinn des Krieges nachzudenken, der gerade tobte. Ihre Freude am Singen wurde dazu genutzt, die Sichtweisen jener Erwachsenen, die den Krieg begrüßten und unterstützten, und vor allem die Ideologie des wilhelminischen Staates zu verbreiten und sie in den Köpfen der Lernenden zu verankern.
Noch perfider waren jedoch propagandistische Kinderbücher der damaligen Zeit.3 Sie zielten direkt auf die (abendliche) Vorlesesituation zwischen Eltern und Kindern – eine der privatesten Situationen in Familien. In diese Vertrauenssituation, die nicht darauf angelegt ist, mögliche Angriffe und Einflussnahmen von außen zu reflektieren, transportierten Propaganda-Kinderbücher mit ihren bunten Bildern, in denen der Krieg wie ein lustiges Räuber-und-Gendarm-Spiel aussah, ihre kriegsverharmlosenden oder sogar -verherrlichenden Botschaften voller Chauvinismus und Nationalismus.
Kinder bekamen durch solche Bücher unterschwellig das Gift des Hasses und des Krieges ,injiziert‘:
Im mBook können sich Lernende auf mehreren Wegen diesen Büchern quellenmethodisch nähern, um eine Grundlage für die De-Konstruktion der Wirkungsabsichten und -wege dieser Propaganda zu schaffen. Zum einen besteht die Möglichkeit, sich durch eine vertonte Bilder-Slideshow der Vorlesesituation anzunähern.
Über eine Bildergalerie können Lernende zum anderen das ganze Kinderbuch in eigenem Tempo lesen und analysieren. Das schließt auch eine Möglichkeit zur Transkription der Schrift ein. Dazu werden Hilfen gegeben, etwa indem sich ein Sütterlin-Alphabet zuschalten lässt, mit dessen Unterstützung sich Lernende selbst an die ,Entschlüsselung‘ einiger Wörter des Buches (und seiner von den Nutzern stammenden Aufschriften) wagen können.
Die beiden erläuterten Beispiele zeigen exemplarisch das Potenzial auf, das verknüpfte mediale Konstruktionen für die Schaffung von Zugängen zu Geschehnissen der Vergangenheit und ihrer Hinterlassenschaften haben können. Das Wecken von Emotionen und die Anregung von Vorstellungskraft sind eng verbunden mit Lernprozessen.4 Dazu lassen sich mit digitalen Mitteln die unterschiedlichen menschlichen Sinne ansprechen und wo etwa Musik bei einem früheren Geschehen nachweisbar eine Rolle gespielt hat, kann in heutigen Rezeptionsprozessen das Einbinden von Musik ein Mittel sein, sich Kontexte von Quellen besser vorzustellen. Auch das intensive Betrachten von Bilderserien oder das „Vorgelesenbekommen“ sind solche Mittel, wenn es etwa darum geht, sich die Wirkung von Aussagen vorstellen zu können.
Das mBook zeigt zudem, dass jede mediale Aufbereitung andere Vorteile mit sich bringt und andere Herangehensweisen erfordert. Es wäre eine vertane Chance, Potenziale zu medialer Diversifizierung ungenutzt zu lassen. Alle sinnvollen Möglichkeiten, die sich zur Vermittlung anbieten, sollten auch genutzt werden. So kann Geschichte gesehen, gehört und letztendlich ,erlebt‘ werden.
Zitiervorschlag: Florian Sochatzy und Marcus Ventzke (Hrsg.), Bildung digital gestalten, Eichstätt 2020, Kap. Geschichte sehen, hören und ,erleben‘ https://bildung-digital-gestalten.institut-fuer-digitales-lernen.de/inhalt/geschichte-sehen-hören-und-erleben 23.10.2020. content_copy kopiert!
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